(openPR) Am Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine hatte der ehemalige Neuss-Weckhovener Stadtverordnete Carsten Mohr seinen Parteiaustritt schon formuliert, nahm sich aber noch Bedenkzeit, um Gespräche zu führen. Nun informierte der 58-Jährige Bundespartei, Stadtverband und Ortsverein, die SPD nach 39 Jahren zu verlassen.
Die anfänglich von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht der Ukraine nur angebotenen 5.000 Helme hätten ihn für die SPD ebenso schämen lassen wie das häufige Schweigen und lange Ausweichen von Bundeskanzlers Olaf Scholz. „Das SPD-geführte Deutschland nimmt sich Zeit und bremst, während in der Ukraine gestorben wird", zeigt sich Mohr entsetzt. Dass den verständlichen Hilferufen und dem Druck aus der Ukraine, die führende Bundespolitikern zumindest zum Teil für fortgesetzte Geschäfte mit der Russischen Föderation und als Pufferstaat geopfert hätten, aus SPD-Regierungskreisen ein „unerträglich“ entgegnet wurde, habe eine weit verbreitete, für ihn ebenfalls unerträgliche Denke verraten. Dem Versagen eine glaubwürdige Besserung folgen zu lassen, nehme er den gescheiterten Verantwortlichen nicht ab.
„Die vielen opportunistischen, beschwichtigenden oder gar kollaborierenden, aber stets karrierebewussten Spitzenfunktionäre sind halt nicht in der Lage, solche Krisen zu meistern“, stellt Carsten Mohr fest, der wegen Art und Inhalt der sogenannten „Wende“ 1983, die „Macher-Qualitäten“ eines Helmut Schmidt schätzend, von den Liberalen zur Sozialdemokratie gefunden hatte: „Aber die SPD ist in den vergangenen 20 Jahren halt eine andere geworden.“ Dies sei insbesondere am vorherrschenden, neuen Politiker-Typ zu erkennen: „im politiknahen Nebenjob Blut geleckt und dann entdeckt, auch ohne signifikante Berufserfahrung oder mit abgebrochenem Studium als Maulhelden und Vereinsmeier zu höheren Weihen gelangen zu können, um uns - ohne inhaltliche Verbindlichkeit oder Haftung - zu erklären, wie die Welt funktioniert.“
„Der Entfremdungsprozess war ein Längerer“, gibt Mohr zu und verweist darauf, dass der marktradikale Zeitgeist vor der Schröder-SPD nicht halt gemacht habe und eine sozialdemokratische Agenda gegen eine Neoliberale getauscht worden sei: „Aber ich bin nicht wegen des Lambsdorff-Papiers aus der FDP ausgetreten, um zu sehen, wie es die Genossen der Bosse umsetzen.“ Er schiebt nach, die SPD seit 2005 bei Bundestags- und Europawahlen nicht mehr unterstützt zu haben.
Die positive Entwicklung der kommunalen SPD habe er mit Freude zur Kenntnis genommen: „Für ein weiteres Überwintern in der SPD reichen Genugtuung und Nostalgie jedoch nicht“.
Dabei galt er einst als Hoffnungsträger der Neusser SPD. 1995 gab der einstige Neusser Juso-Chef jedoch der Wirtschaft den Vorzug, ging für die Commerzbank nach Polen und machte Platz für seinen Stellvertreter Reiner Breuer, dem heutigen Bürgermeister von Neuss.
Aus Wien kommend, wo Mohr für den Allianz-Konzern eine Investmentbank abwickelte und seine Tochter geboren wurde, kehrte der heute 58-Jährige im letzten Jahr an den Rhein zurück, pendelt aber zwischen Neuss und Rio de Janeiro. Von der Politik konnte der vormalige Haushaltsexperte und stellvertretende Vorsitzende seiner Ratsfraktion nicht lassen: Mohr engagierte sich im Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung, in einem Verein gegen Wirtschaftskriminalität, im SPD-Wirtschaftsforum, als Ko-Autor eines an die Bundesregierung gerichteten Afrika-Memorandums Berliner Unternehmer und als Schatzmeister im Präsidium der Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft. Die neu gewonnene „Beinfreiheit“ will Mohr als designierter Präsident des in Gründung befindlichen Vereins „Neue Wege mit Afrika, Asien und den Amerikas!“ nutzen: „Ein gesunder Abstand zu allen politischen Akteuren wird hilfreich sein.“
Nach „anspruchsvollen Fällen“ wie der inzwischen wieder staatlichen Bundesdruckerei, der seinerzeit angeschlagenen Germania Fluggesellschaft, den komplexen Fahrzeugfinanzierungen der Bahngesellschaft Netinera und der Gazprom Germania begleitet er gegenwärtig die Abwicklung der Wirecard Bank.
Bereits acht Jahre vor der Veröffentlichung der sogenannten Panama Papers im Frühjahr 2016 warnte der Compliance-Experte und Fachmann für Offshore-Gesellschaften sowie Offset-Geschäfte Bundesdruckerei und Bundesfinanzministerium vergeblich vor der Umstellung von Lieferungen an das venezolanische Regime über verdeckte, von der berüchtigten Kanzlei Mossack Fonseca in Panama gegründeten Briefkastenfirmen: „Dass Finanzstaatssekretär Gatzer von der SPD und CDU-Innenminister Schäuble mauerten, gab mir zu denken und machte mich zu einem Skeptiker der Großen Koalition“.