openPR Recherche & Suche
Presseinformation

1,3 Millionen weniger „Funktionale Analphabeten“ – ein Erfolg des Bildungssystems?!

28.05.201912:05 UhrWissenschaft, Forschung, Bildung

(openPR) Die Bundesministerin Karliczek täuscht oder irrt gewaltig, findet Bildungsexperte Michael Kortländer.

Kürzlich wurden die Ergebnisse der LEO Studie 2018 veröffentlicht. Demnach soll es im Vergleich zur LEO Studie 2011 eine Verringerung der Funktionalen Analphabeten von 7,5 Millionen auf 6,2 Millionen gegeben haben. Zu dieser inzwischen „Menschen mit geringer Literalität“ benannten Gruppe gehören all jene, die zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben können, aber keine zusammenhängenden Texte verstehen, auch keine kürzeren.

Die Bundesbildungsministerin Anja Karliczek freute sich und interpretierte den Rückgang der Betroffenen auf ihre Weise: Es sei wunderbar, dass es im Vergleich zu früher über eine Million weniger Menschen gäbe, die nicht ausreichend lesen und schreiben könnten. „Das ist ein Erfolg, den unser Bildungssystem in den letzten Jahren geschafft hat.“ (1)

Diese Schlussfolgerung ist schlicht falsch

Prof. Dr. Heike Solga, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Sprecherin des Beirats der LEO-Studie, schreibt in ihrer Präsentation dagegen, das Ergebnis bedeute nicht, dass in dem Zeitraum eine Million Menschen lesen und schreiben gelernt hätten. Zitat aus der Studie: „Der Unterschied zwischen LEO 2018 und 2010 ist minimal und nicht signifikant. (...) Das heißt, wenn die Bevölkerungszusammensetzung 2010 so gewesen wäre wie 2018, hätte sich der Anteil gering literalisierter Erwachsener nicht verändert.“ (2)

Auf Erfolge der Bildungspolitik zu verweisen, verbietet sich

In der Iglu-Studie „2016 erreichen 18,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland nicht die Kompetenzstufe III. Diese Kinder verfügen über ein nicht ausreichendes Leistungsniveau im Lesen. Es ist davon auszugehen, dass sie mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern in der Sekundarstufe I konfrontiert sein werden.“ (3)

2001 verfehlten noch 16,9 Prozent der deutschen Viertklässler das Mindestniveau beim Lesen. (4) Die Iglu-Studie 2016 belegt also, dass sich die Leseleistungen der Schüler*innen seit 2001 nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert haben.

5,9% der Schüler*innen haben im Jahr 2015 die Schule ganz ohne Schulabschluss verlassen, also über 47.000 Jugendliche! Das waren mehr als in den Jahren zuvor. (5) Die Zahlen zeigen, dass unser Bildungssystem nach wie vor jährlich zigtausende weitere „funktionale Analphabet*innen“ erzeugt.

Diese Hintergründe sollte die Bundesministerin kennen. Sie aber behauptet: „Der erfreuliche Rückgang um mehr als eine Million Menschen ist darauf zurückzuführen, dass an den Schulen die Grundfertigkeiten doch besser vermittelt werden als vielleicht in der Vergangenheit.“ (6)
Das ist entweder ein erheblicher Mangel an Sachverstand oder eine bewusste Irreführung.

Nationale Dekade der Alphabetisierung und Grundbildung

Bund und Länder wollen im Zeitraum von 2016 bis 2026 die Lese- und Schreibfähigkeiten von Erwachsenen in Deutschland deutlich verbessern. Sie haben deshalb eine Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung ausgerufen. (7) Erwachsene sollen mehr Angebote als bisher bekommen, die sie dabei unterstützen, besser Lesen und Schreiben zu lernen. Das Bundesbildungsministerium will die AlphaDekade mit bis zu 180 Millionen Euro fördern.

Auch bei der AlphaDekade bedankt sich Karliczek: „Und das zeigt, dass die Aufklärungskampagnen, die wir gemacht haben in den letzen Jahren, helfen. An dieser Stelle möchte ich einfach auch mal der AlphaDekade danke sagen (...).“ (8)

Bei Prof. Dr. Heike Solga liest sich das anders: „Der Effekt der Weiterbildungspolitik für die Literalität ist uneindeutig: Die Alphabetisierungsteilnahme ist mit rund 40.000 Belegungen marginal. Grundbildung umfasst zudem Integrationskurse, Programme der Arbeitsagentur und der Elternbildung. Die Weiterbildungsbeteiligung gering literalisierter Erwachsener liegt bei 28%.“

Der Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung, Ralf Häder bestätigt dies: „Die positive Lesart der neuen Zahl berücksichtigt allerdings nicht deren Ursachen. Bei genauerer Betrachtung der bisher veröffentlichten Ergebnisse, lässt sich der Rückgang nicht auf die Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeiten von 1,3 Millionen Betroffenen zurückführen.“ (9)

Die alphaDekade ist ein teures Prestigeprojekt, aber was letztlich bei den Betroffenen ankommt, bleibt ungewiss. Die neuen Zahlen aus LEO 2018 als Erfolg des Bildungssystems einerseits und der alphaDekade andererseits darzustellen, entspricht jedenfalls nicht den Aussagen der beteiligten Expert*innen.

Warum besuchen nicht mehr „gering literalisierte“ Menschen Kurse zur Alphabetisierung?

Hier spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle:

Zum einen, weil sie die Kosten oft nicht tragen können – ein Großteil der Menschen sind Geringverdiener oder arbeitslos. (Interessierte Kursteilnehmer*innen werden mit von Volkshochschule zu Volkshochschule ganz unterschiedlichen Kosten belastet.)

Vor allem aber, weil sich die „Funktionalen Analphabeten“ meist selbst die Schuld an ihrem „Versagen“ geben, weil sie sich schämen und Angst haben „entdeckt“ zu werden. Während die meisten Menschen damit kokettieren, dass sie „es mit den Zahlen nicht so haben“, empfinden gering Literalisierte ihre schriftsprachliche Schwäche als individuelles Versagen und als persönliche Schande.

Wir alle und allen voran die Bildungspolitiker*innen sollten den Mut finden und eingestehen: Dass so viele Menschen gering literalisiert sind, dass so viele Kinder nicht ausreichend lesen und schreiben lernen oder sogar die Schule ohne Abschluss verlassen, das ist in erster Linie die Verantwortung der Gesellschaft und zuallererst des Bildungssystems und nicht die Verantwortung der einzelnen Menschen. Durch dieses Eingeständnis wäre viel gewonnen. Zumindest würden die Betroffenen entlastet.

Quellen:

Die vollständigen Quellen mit Links können Sie hier einsehen: https://alphaprof.de/2019/05/13-millionen-weniger-funktionale-analphabeten-kein-erfolg-des-bildungssystems/

Diese Pressemeldung wurde auf openPR veröffentlicht.

Verantwortlich für diese Pressemeldung:

News-ID: 1050425
 560

Kostenlose Online PR für alle

Jetzt Ihren Pressetext mit einem Klick auf openPR veröffentlichen

Jetzt gratis starten

Pressebericht „1,3 Millionen weniger „Funktionale Analphabeten“ – ein Erfolg des Bildungssystems?!“ bearbeiten oder mit dem "Super-PR-Sparpaket" stark hervorheben, zielgerichtet an Journalisten & Top50 Online-Portale verbreiten:

PM löschen PM ändern
Disclaimer: Für den obigen Pressetext inkl. etwaiger Bilder/ Videos ist ausschließlich der im Text angegebene Kontakt verantwortlich. Der Webseitenanbieter distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten Dritter und macht sich diese nicht zu eigen. Wenn Sie die obigen Informationen redaktionell nutzen möchten, so wenden Sie sich bitte an den obigen Pressekontakt. Bei einer Veröffentlichung bitten wir um ein Belegexemplar oder Quellenennung der URL.

Pressemitteilungen KOSTENLOS veröffentlichen und verbreiten mit openPR

Stellen Sie Ihre Medienmitteilung jetzt hier ein!

Jetzt gratis starten

Weitere Mitteilungen von LegaKids.net

Bild: LegaKids Stiftung feiert 20 Jahre erfolgreiche BildungsarbeitBild: LegaKids Stiftung feiert 20 Jahre erfolgreiche Bildungsarbeit
LegaKids Stiftung feiert 20 Jahre erfolgreiche Bildungsarbeit
Pressemitteilung  Pressemitteilung zur sofortigen Veröffentlichung freigegeben LegaKids Stiftung feiert 20-jähriges Jubiläum: Ein Meilenstein in der Förderung von Lese- und Schreibkompetenz von Kindern [München, Februar 2024] – Die LegaKids Stiftung, eine renommierte gemeinnützige Organisation, freut sich, ihr 20-jähriges Jubiläum im Dienste der Förderung von Lese- und Schreibkompetenzen bei Kindern bekannt zu geben. Seit zwei Jahrzehnten ist LegaKids eine führende Akteurin im Bereich der Lernförderung und hat es sich zur Mission gemacht, …
Tag der Kinderrechte am 20. November:
Tag der Kinderrechte am 20. November:
Pressemitteilung Tag der Kinderrechte am 20. November:  Das Recht der Kinder auf Lesen München 16. November Am Tag der Kinderrechte möchten die LegaKids Stiftung die Aufmerksamkeit auf das grundlegende Recht der Kinder auf Lesen lenken, wie es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert ist. Lesen ist eine essentielle Fähigkeit, die es Kindern ermöglicht, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen und Bildungschancen wahrzunehmen. Darüber hinaus steht die Lesefähigkeit in engem Zusammenhang mit dem Kinderrecht auf Gesundhei…

Das könnte Sie auch interessieren:

Neuerscheinung des DIE: Zugänge zur Inklusion – auch in der Weiterbildung
Neuerscheinung des DIE: Zugänge zur Inklusion – auch in der Weiterbildung
Bonn, 8. Juli 2013. Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems auch im Bereich der Erwachsenenbildung ist ein Ziel, zu dem sich die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat. Antworten auf die Frage, wie dieses Ziel praktisch erreicht werden kann, suchen die Autoren des Bandes "Zugänge zur Inklusion", den …
Literaturwettbewerb für Analphabeten
Literaturwettbewerb für Analphabeten
Literaturwettbewerb für Analphabeten www.wir-schreiben.de geht am 13.02.2004 online Analphabeten sehen die Welt mit anderen Augen. Texte sind für sie Bilder aus einer anderen Welt und Bilder die Helden der Erinnerung. Dennoch ist es die größte Sehnsucht der vier Millionen Analphabeten in Deutschland, lesen und schreiben zu lernen. Allein in den Volkshochschulen …
Bild: Das G muss weg - Von Dreien, die auszogen, Schreiben und Lesen zu lernenBild: Das G muss weg - Von Dreien, die auszogen, Schreiben und Lesen zu lernen
Das G muss weg - Von Dreien, die auszogen, Schreiben und Lesen zu lernen
… Dokumentarfilm-Projekt "Das G muss weg" von Renate Günther-Greene. Unglaublich aber wahr: In Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, leben über vier Millionen deutschsprachige Analphabeten. Im Alltag haben sie Schwierigkeiten beim Einkaufen, beim Straßenschilder Lesen oder wenn sie Fahrkarten kaufen wollen. Selbstverständlichkeiten können für Analphabeten zu fast …
"Wenn Lesen und Schreiben zur KWAHL wird." koalpha lädt zur Fachtagung ein
"Wenn Lesen und Schreiben zur KWAHL wird." koalpha lädt zur Fachtagung ein
… nicht lesen, andere können den Inhalt selbst von kurzen Texten nicht erfassen, geschweige denn, schriftliche Mitteilungen verfassen. Sie sind, oft trotz Schulbesuchs, funktionale Analphabeten. Diese Ergebnisse der „leo.-Level-One Studie“ der Uni Hamburg aus dem Jahr 2011 stoßen immer wieder auf großes Interesse. Dabei stellen sich regelmäßig Fragen, …
Bild: Empirische Sonderpädagogik: Funktionelle Analphabeten können sich beruflich qualifizierenBild: Empirische Sonderpädagogik: Funktionelle Analphabeten können sich beruflich qualifizieren
Empirische Sonderpädagogik: Funktionelle Analphabeten können sich beruflich qualifizieren
Mehr als sieben Millionen Erwachsene in Deutschland sind funktionelle Analphabeten. Viele von ihnen scheitern im Berufsleben; doch andere qualifizieren sich in verantwortungsvollen Aufgaben, belegt eine qualitative Studie von Professor Dr. Marc Thielen (Universität Bremen). Die Arbeit erschien in der Fachzeitschrift "Empirische Sonderpädagogik" gemeinsam …
Bild: „Keine Chance oder Null Bock?“Bild: „Keine Chance oder Null Bock?“
„Keine Chance oder Null Bock?“
Fachtagung zu Bildungsbeteiligung und Lernmotivation Woran liegt es, wenn Bildungsangebote nicht wahrge-nommen werden, wenn Menschen die Schule ohne Ab-schluss verlassen oder gar als funktionale Analphabeten durchs Leben gehen? Ist es die „Null Bock“-Mentalität, die man dann gern unterstellt oder haben diese Menschen keine echte Chance, sich an Bildung …
Bild: Preis "DIE EUROPA" 2011 für IB-AlphabetisierungskurseBild: Preis "DIE EUROPA" 2011 für IB-Alphabetisierungskurse
Preis "DIE EUROPA" 2011 für IB-Alphabetisierungskurse
… zwar projektbezogen an die Durchführenden eines beruflichen Bildungsprozesses mit Benachteiligten. Als Sieger ging im Wettbewerb 2011 das IB-Projekt „Qualifizierung von arbeitslosen funktionalen Analphabeten“ hervor. Das Projekt des IB-Verbund Sachsen/Thüringen startete bereits im März 2006 in Hirschfelde und bietet heute Kurse an 8 Standorten in Sachsen …
Bild: "Das ganze Alphabet kennen" - Alphabetisierungskurse für ErwachseneBild: "Das ganze Alphabet kennen" - Alphabetisierungskurse für Erwachsene
"Das ganze Alphabet kennen" - Alphabetisierungskurse für Erwachsene
Seit März 2006 bietet der Internationale Bund (IB) Kurse in Lesen und Schreiben für funktionale Analphabeten an. „Das ganze Alphabet können“ - Das, was wie das Ziel eines Erstklässlers klingt, ist tatsächlich der Wunsch eines Erwachsenen. Auch wenn man es in Deutschland kaum glauben mag: Man schätzt den Personenkreis derer, die so schlecht Lesen und …
Wer lesen kann, ist klar im Vorteil - koalpha lädt zu Fachtagung Alphabetisierung und Gesundheit ein
Wer lesen kann, ist klar im Vorteil - koalpha lädt zu Fachtagung Alphabetisierung und Gesundheit ein
Mehr als 200.000 Menschen in Sachsen können nicht richtig lesen und schreiben. Sie sind, oft trotz Schulbesuches, funktionale Analphabeten. Es ist kaum vorstellbar, mit welchen Schwierigkeiten diese Menschen im Alltag zu kämpfen haben. Um ihnen zu helfen, wurde 2010 im Freistaat Sachsen eine Koordinierungsstelle Alphabetisierung „koalpha“ ins Leben …
Politik und Bildungsverbände diskutieren Nationale Bildungsstrategie
Politik und Bildungsverbände diskutieren Nationale Bildungsstrategie
… lösen. So verlassen beispielsweise über 60.000 Schüler jedes Jahr ohne Abschluss die Schule, etwa 7,5 Millionen erwerbsfähige Menschen sind in der Bundesrepublik funktionale Analphabeten und die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den letzten Jahren, trotz wirtschaftlich guter Lage, nur marginal auf aktuell 1,06 Millionen Menschen gesunken. Diesen Missstand …
Sie lesen gerade: 1,3 Millionen weniger „Funktionale Analphabeten“ – ein Erfolg des Bildungssystems?!