(openPR) Meine Nachbarin Fatime ist verwirrt. Im zentralafrikanischen Tschad, wo wir damals lebten, waren neue Geldscheine eingeführt worden. Da Fatime weder lesen noch schreiben kann, hatte sie den Wert des jeweiligen Geldscheines bisher an den Bildern erkannt. Nun waren neue Bilder auf den Scheinen aufgedruckt – wie sollte sie wissen, ob das Geld immer noch gleich viel wert war? Wieder einmal fürchtete sie sich davor, betrogen zu werden; das war ihr als Analphabetin schließlich schon oft genug passiert. Bei der letzten Präsidentschaftswahl war es auch nicht anders gewesen. Den Wahlzettel hat ihr Mann für sie ausgefüllt. Lesen kann der zwar auch nicht, aber immerhin hat er das Bild des Präsidenten wiedererkannt und pflichtgemäß sein Kreuzchen danebengesetzt.
So wie Fatime geht es nach Schätzungen der UNESCO weltweit 796 Millionen Menschen: Sie können weder lesen noch schreiben. Die meisten dieser Menschen leben in Afrika und Süd- oder Westasien, zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Dabei waren die Jahre 2003 – 2012 von der UNO zur Weltalphabetisierungsdekade erklärt worden. Fehlende Schulen, schlecht ausgebildete Lehrer und mangelnder politischer Wille machen die großen Pläne jedoch in vielen Teilen der Welt zunichte. Ein weiterer Faktor wird dabei oft übersehen: In vielen Ländern der Zweidrittelwelt findet der Schulunterricht nicht in der Muttersprache der Kinder, sondern in der Landessprache statt. Die meisten Kinder verstehen diese Sprache jedoch nicht einmal ansatzweise. Lesen- und Schreibenlernen sind hochkomplexe Vorgänge. Wenn sich Kinder diese Fähigkeiten in einer Fremdsprache aneignen müssen, so haben sie dabei ungeheuer hohe Hürden zu überwinden. Es nimmt nicht wunder, dass zahllose Kinder an dieser Hürde scheitern und die Schule nach kurzer Zeit abbrechen. Ein Leben als Analphabet ist so schon vorprogrammiert.
Dass Schulbildung nicht in der Muttersprache stattfindet, hat viele Gründe und ist oft auch politisch motiviert. Ein einfacher Grund liegt darin, dass weltweit ungefähr 6.800 Sprachen gesprochen werden. Mehrere Tausend dieser Sprachen werden tatsächlich nur gesprochen, d.h. sie sind nicht verschriftet, es gibt keine Alphabete oder Rechtschreibregeln, keine Literatur und folglich auch keine Schulbücher. Eine Sprache, die noch nicht einmal aufgeschrieben ist, kann auch nicht als Unterrichtssprache für den Grundschulunterricht dienen.
Das war letztlich auch der Grund, warum wir selbst in dieser abgelegenen Gegend Afrikas gelandet waren: Wir wollten einigen der 130 Sprachen des Tschad eine Schrift geben, damit Menschen eine echte Bildungschance erhalten. Noch ist der Weg zu einer echten, tiefgreifenden Alphabetisierung für viele dieser Menschen lang, aber die Mühe wird sich auszahlen. Nur durch Bildung in der Muttersprache können Menschen ihre eigene Lebenssituation nachhaltig verändern und an der Entwicklung ihres Landes teilhaben.