(openPR) Neuss, den 20.07.2011 - Nach den seit dem 01.09.2009 neugefassten Vorschriften im Betreuungsrecht (§ 1901a ff. Bürgerliches Gesetzbuch - BGB) hat jeder einwilligungsfähige Volljährige die Möglichkeit, mittels einer schriftlich abgefassten Patientenverfügung zu bestimmen, dass im Falle einer exakt festgelegten Lebenssituation bestimmte (in der Regel lebensverlängernde) Maßnahmen, wie z.B. die Zuführung von Nahrung und Flüssigkeit mittels Magensonde (PEG) oder die künstliche Beatmung, zu unterbleiben haben. Insoweit gibt es auch keine Einschränkungen dergestalt, dass solche Unterlassungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn sich der Betroffene im Sterbeprozess befindet (sog. Reichweitenbegrenzung). Letztlich darf auch niemand zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet oder die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass niemand verpflichtet werden kann, von der Errichtung einer Patientenverfügung oder bestimmten Festlegungen hinsichtlich Behandlungsabbruch abzusehen. Der Gesetzgeber hat mit den neuen Regelungen eine eindeutige Rechtslage geschaffen mit der Folge, dass sich auch bei der Behandlung, Pflege und Betreuung von Heimbewohnern uneingeschränkte Pflichten dahingehend ergeben, eine wirksam errichtete Patientenverfügungen zu respektieren und ihre Durchsetzung zu gewährleisten.
Mit Gewissensklauseln darf die Rechtslage nicht verändert werden.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die durch den Gesetzgeber geschaffene Rechtslage als mit dem Lebensschutz nicht vereinbar hinzustellen. Vor allem sind seit dem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 25.06.2010 - 2 StR 454/09 - immer wieder Rufe laut geworden, die neuen Vorschiften im BGB im Sinne einer vermeintlichen Stärkung des Lebensschutzes zu korrigieren und die Verfügungskompetenzen Volljähriger hinsichtlich der Unterlassung bzw. des Abbruches von Behandlungs- und Pflegemaßnahmen einzuschränken.
Solche Erwägungen haben einen Heimträger bewogen, dem rechtlichen Betreuer einer Bewohnerin eine Nebenabrede zum Heimvertrag abzuverlangen. Der diesbezügliche Text (verkürzt und anonymisiert):
„Zwischen der Pflegeeinrichtung X und Frau Y wird der Heimvertrag in § 11 wie folgt ergänzt:
Das Heim und dessen Mitarbeiter haben die sittliche Überzeugung, dass die Verpflichtung besteht, Leben zu schützen und zu pflegen. Der Bewohner oder sein rechtlicher Vertreter wird vom Heim und seinen Mitarbeitern daher ein Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit nicht verlangen, auch wenn eine entsprechende Patientenverfügung oder ein entsprechender mutmaßlicher Wille vorliegt. Sollte der Bewohner oder sein rechtlicher Vertreter daher beabsichtigen, das Leben des Bewohners durch Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug zu beenden, verpflichtet er sich, den Heimvertrag zu kündigen und die beabsichtigte Maßnahmen in einer damit vertrauten Institution (Hospiz o.ä.) oder zu Hause durchzuführen.“
Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk hat daraufhin die Frage, ob und inwieweit solche Nebenabreden zulässig sind, geprüft und folgende Beurteilung vorgenommen:
Der rechtliche Betreuer (bzw. Bevollmächtigte) hat dem Patientenwillen Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901a BGB). Dies auch dann, wenn es z.B. um einen Behandlungsabbruch bzw. das Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit geht. Der Heimträger bzw. die Führungsverantwortlichen sind in der Pflicht, die Patientenautonomie zu achten (siehe auch die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“). Es kann unter diesen Umständen keine Veranlassung gesehen werden, die gewünschte Vertragsänderung als zulässige Ergänzung des Heimvertrages anzusehen. Im Übrigen sind die Gründe, aus denen ein Heimvertrag beendet werden darf und kann, im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG) abschließend geregelt. Dies ist zwingendes Recht, so dass ein zusätzlicher Beendigungstatbestand nicht durch eine Nebenabrede im Heimvertrag – als sog. „Gewissensklausel“ - geschaffen werden kann.
Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk hat - unabhängig von der eigenen Einschätzung - die Projektleitung „Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG)“ bei der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) mit der Angelegenheit befassen können. Es hat daraufhin eine juristische Prüfung und eine Abmahnung gegenüber der Einrichtung gegeben mit der Folge, dass die hier angesprochene Pflegeeinrichtung am 14.07.2011 die nachfolgende Unterlassungserklärung abgegeben hat (anonymisiert und auszugsweise zitiert):
„Hiermit verpflichtet sich der/die Unterzeichnende … in Bezug auf Verträge über vollstationäre Pflege, dort in Regelungen zur Patientenverfügung, zur Beachtung des Patientenwillens und zur Umsetzung dieses Willens durch Betreuer bzw. Bevollmächtigte, die Verwendung folgender und diesen inhaltsgleichen Klauseln zu unterlassen:“
1. „Der/die Bewohner(in) oder sein(e) rechtlichen Vertreter(in) wird vom Heim und seinen Mitarbeitern (…) ein Vorenthalten von Nahrung und Flüssigkeit nicht verlangen, auch wenn eine entsprechende Patientenverfügung oder ein entsprechender mutmaßlicher Wille vorliegt. Sollte der/die Bewohner(in) oder sein/ihr rechtlicher Vertreter(in) daher beabsichtigten, das Leben des/der Bewohners/in durch Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug zu beenden, verpflichten er/sie sich, den Heimvertrag zu kündigen (…)“
oder
2. „Dies wiederum kann dazu führen, dass im Einzelfall ein verlangter Abbruch pflegerischer Behandlungen nicht vorgenommen werden kann.“
Mit dieser Erklärung hat sich die vom vzbv abgemahnte Einrichtung verpflichtet, künftig die Verwendung von Vertragsklauseln zu unterlassen, die den ausdrücklichen oder mutmaßlichen Patientenwillen im Hinblick auf lebenserhaltende Maßnahmen missachten oder ein eigenes Entscheidungsrecht der Einrichtung im Hinblick auf die Erforderlichkeit solcher Maßnahmen vorsehen.
Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk sieht sich in seiner Rechtseinschätzung bestärkt und begrüßt die zusätzliche Klarstellung durch den vzbv.
Werner Schell
Dozent für Pflegerecht und Vorstand von Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk