(openPR) Fachtagung zur emotionalen Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung
MECKENBEUREN-LIEBENAU – Wie kann man das Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung besser verstehen? Und was hat die emotionale Persönlichkeitsentwicklung damit zu tun? Eine gut besuchte Fachtagung der St. Lukas-Klinik in Liebenau beschäftigte sich in Vorträgen, Workshops und einer Podiumsdiskussion mit dem so genannten Schema der emotionalen Entwicklung – kurz: "SEO".
Emotionen als Schlüssel für ein besseres Verständnis
Obwohl schon vor über 20 Jahren erstmals in den Niederlanden vorgestellt, fasst dieses Konzept erst allmählich auch in Deutschland Fuß und wird seit 2010 in der zur Stiftung Liebenau gehörenden St. Lukas-Klinik (www.st.lukas-klinik.de) angewendet. Entwickelt wurde der auf mehrere entwicklungspsychologische Theorien aufbauende "Schaal voor Emotionele Ontwikkeling" ( SEO ) vom niederländischen Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie Prof. Dr. Anton Došen, der damit seinerzeit in der Wissenschaft Neuland betrat und nun in Liebenau einem Fachpublikum seinen Ansatz ausführlich erläuterte. Kernaussage des SEO : Neben den geläufigen Aspekten – sozial, biologisch, kognitiv – spielen auch die Emotionen eine ganz entscheidende Rolle bei der Herausbildung der eigenen Persönlichkeit. "Emotionale Entwicklung beginnt direkt nach der Geburt und ist die Basis für die Ich-Werdung", so Došen.
Den emotionalen Entwicklungsstand erkennen
Im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung heißt das: auch emotionale Entwicklungsverzögerungen müssen dringend berücksichtigt werden. Denn: "Wenn eine Diskrepanz zwischen emotionaler und kognitiver Entwicklung besteht, erhöht sich das Risiko für das Auftreten von Problemverhalten und psychischen Störungen." Diese Symptome seien oft schlicht Ausdruck einer Überforderung. Ob kindlich anmutende Verhaltensweisen wie Weglaufen und Zornanfälle oder ein intensives Verlangen nach körperlicher Nähe und festen Bindungspersonen: Mit einer SEO -orientierten Diagnose könne es gelingen, solche Muster neu zu interpretieren und zu verstehen. In welcher der fünf Entwicklungsphasen nach SEO befindet sich der Mensch? Und welche emotionalen Grundbedürfnisse hat er dementsprechend?
"Diese Person kann gar nicht anders handeln"
Ein Beispiel dazu aus der Podiumsdiskussion: Eine Frau Anfang 20 verweigert komplett die Nahrungsaufnahme. Man stellt dank des SEO -Leitfadens der St. Lukas-Klinik fest: Sie ist durch einschneidende Erlebnisse in die frühe SEO -1-Phase zurückgeworfen worden. Charakteristisch für diese Stufe: die einem Säugling entsprechenden emotionalen Grundbedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit. Durch engen körperlichen Kontakt gelingt es der Betreuerin schließlich, diese zu befriedigen. Das Ergebnis: Die junge Frau beginnt plötzlich zu trinken und zu essen, eine drohende Zwangsernährung per Sonde ist erfolgreich verhindert worden. Auch andere auf den ersten Blick unerklärliche Verhaltensweisen rückt das Wissen um den SEO plötzlich in ein ganz anderes Licht. Prof. Došen: "Verhaltensauffälligkeiten können tolerierbar werden, wenn man erst die Ursachen verstanden hat und merkt: Diese Person kann gar nicht anders handeln."
"Wir behandeln kein Verhalten, sondern Menschen"
Im Mittelpunkt stehe also immer der Mensch, nicht sein Tun, sei es auch noch so herausfordernd. "Wir behandeln kein Verhalten, sondern eine Person", betonte Došen und betrachtet Medikamente als letzte Option. In der Realität sehe das leider anders aus: In teilweise merkwürdigsten Kombinationen würden etwa Beruhigungsmittel und Stimulanzien zugleich verabreicht, kritisierte der Niederländer. Auch Dr. Jürgen Kolb, Chefarzt in der St. Lukas-Klinik, bezeichnete es als wichtig, "ein bisschen von dieser Medikamentengläubigkeit abzurücken." Unisono strichen die Experten auf dem Podium und in den Workshops die Gefühlsebene als ein Schlüssel zur weiteren Entwicklung der betreuten Menschen heraus, wobei das gesamte Umfeld – Eltern, Lehrer, Betreuer und Mediziner – gefordert sei: "Positive Motivation schaffe ich nur über positive Emotionen", so Dr. Kolb.
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