(openPR) Zieht man ein Resümee zum Abschluss der Kasseler Musiktage 2010, so fällt zunächst der bemerkenswerte Zuwachs an Besucherzahlen ins Auge: Mit rund 6.200 Zuhörern innerhalb von insgesamt 29 Veranstaltungen konnten die Kasseler Musiktage 30% mehr Konzertbesucher als im Vorjahr begrüßen. Die Gründe für den großen Zuspruch sind vielfältig. Das Zusammengehen mit dem 42. Internationalen Heinrich-Schütz-Fest und das im Zentrum stehende Werk Heinrich Schütz’, das selten in so vielfältigen Facetten beleuchtet wurde, sind sicherlich Gründe für das gesteigerte Publikumsinteresse.
Innerhalb von 19 Konzerten lag der Schwerpunkt der Musiktage dem Thema entsprechend auf der Vokalmusik, auch das ein Novum in der jüngeren Geschichte des Festivals. Dass die Veranstalter und insbesondere der Künstlerischer Leiter Dieter Rexroth dieses Thema mit überwiegend bekannten und international renommierten Chören und Ensembles besetzten, die kaum einmal in dieser geballten Präsenz zu finden sind, trug ein Übriges zum Gelingen der groß angelegten Musiktage bei.
Das 17. Jahrhundert, das Jahrhundert von Heinrich Schütz, stellt sich auf der einen Seite als ein Jahrhundert des Grauens und der Verwüstungen dar, aber auch als eines der Suche nach neuen Lebensformen und Perspektiven, nach neuen Ausdruckformen. Unter dem Motto Kreuzungen - Elend und Glanz haben die Kasseler Musiktage diesem Gegensatz nachgespürt und neben Konzerten mit Musik von Schütz und seinen Zeitgenossen die europäischen Dimensionen seiner Musik und deren Beziehungen bis in unsere heutige Zeit deutlich gemacht. Der Vortrag von Prof. Dr. Silke Leopold anlässlich der Eröffnungsveranstaltung im Kasseler Opernfoyer unter dem Titel Heinrich Schütz und Europa war hier als theoretische Untermauerung besonders erhellend.
Das Leipziger Ensemble amarcord (und Gäste) und die Cappella Sagittariana Dresden begeisterten am Eröffnungs-Wochenende in ihrer auf Alte Musik spezialisierten Darbietung mit Madrigalen, Motetten und Konzerten u.a. von Schütz, Gabrieli, Monteverdi, Pallavicino und anderen Barockkomponisten. Dem Kasseler Gönner und Förderer von Heinrich Schütz, dem musikausübenden und komponierenden Landgrafen Moritz von Hessen, war ein ganzes Konzert mit dem Ensemble Weser-Renaissance Bremen gewidmet. Das Ensemble Cantus Cölln unter der Leitung von Konrad Junghänel stellte Heinrich Schütz im Zusammenhang mit seinen deutschen Zeitgenossen Johann Hermann Schein und Heinrich Albert vor.
Zwei Aufführungen mit lokaler Beteiligung ergänzten an diesem ersten Wochenende das hochkarätige Programm. Das Vokalensemble Kassel und das Kammerensemble Neue Musik Berlin unter der Leitung von Eckhard Manz boten in der Martinskirche die spektakuläre Uraufführung von Lucia Ronchettis dramatischem Oratorium nach Schütz’ Musikalischen Exequien „Prosopopeia“, einer Auftragskomposition der Kasseler Musiktage in Kooperation mit Musik an St. Martin. Und in der Kirchditmolder Kirche wurde in einer Gemeinschaftsveranstaltung der Kirchditmolder Kantorei mit zwei anderen Kasseler Kammerchören (Vocalconsort Kassel und Collegium vocale an St. Marien), das an die Dresdner Bombennacht 1945 mahnende Requiem von Rudolf Mauersberger unter der Gesamtleitung von Michael Gerisch aufgeführt.
Zu den großen und besonders beeindruckenden Chorkonzerten gehörte in der zweiten Woche aber vor allem das Konzert des Estnischen Philharmonischen Kammerchores unter der Leitung von Frieder Bernius, der neben Schütz und Bach besonders mit Musik des estnischen zeitgenössischen Komponisten Arvo Pärt überzeugen konnte.
Dem Thema Neue Vokalmusik widmeten sich dazu im Spannungsverhältnis die Konzerte mit kleiner oder gemischt besetzten Ensembles. Als deutsche Erstaufführung fand die Kirchenoper „Ich, Hiob“ des zeitgenössischen österreichischen Komponisten Thomas Daniel Schlee große Beachtung. Der Tenor Markus Schäfer in der Rolle des Hiob, die Kasseler Sopranistin Traudl Schmaderer und ein Instrumentalensemble aus Kasseler Musikern konnten das Publikum vollends überzeugen.
Das Terra-deserta-Projekt von Marko Zdralek, ein Werkzyklus nach dem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ von Christoph Ransmayr, stieß in seiner Mischung aus vokalen (Kai Wessel, Countertenor) und instrumentalen Strecken und der Rezitation aus dem Roman (Patrick Blank) im Südflügel des Kasseler Kulturbahnhofs auf ein interessiertes Publikum.
Ebenfalls im Kulturbahnhof fand ein Projekt Liederzyklen und Klaviermusik statt. Die jungen Komponisten Philipp Maintz, Ying Wang, Ines Lütge und Alexander Muno lieferten hier jeweils mehrteilige Auftragskompositionen für Solostimme und Klavier, denen Klavierwerke von Robert Schumann (Pianist: Markus Bellheim) gegenüber gestellt wurden. Mit anrührender Gesangkunst bis hin zu erstaunlicher Stimmakrobatik stellten sich die Sänger Marisol Montalvo, Clemens Gnad, Stephan Freiberger und Johannes An den anspruchsvollen Aufgaben.
Frappierende Stimmakrobatik bot auch Salomé Kammer bei ihrem Aria - Liederabend im solistischen Alleingang, nur vereinzelt sich selbst auf ihrem Cello begleitend. Von Hildegard von Bingen über John Cage bis hin zu Georges Aperghis stellte sie Werke vor, die sämtlich die üblichen stimmlichen Anforderungen überschritten.
Auch die während des Festivals gebotenen reinen Instrumentalkonzerte bezogen sich auf das diesjährige Motto von „Elend und Glanz“. Der bekannte Cembalist und Musikwissenschaftler Pieter Dirksen bestritt einen Cembalo-Abend zum Thema in der Alten Brüderkirche, und mit seinem Ensemble La Suave Melodia beleuchtete er die Gattung „Tombeau“ (Trauermusik) innerhalb der französischen Kammermusik des 17. Jahrhunderts.
Das traditionelle Konzert des hr-Sinfonieorchesters stellte die beiden emotional gegensätzlichen Klavierkonzerte von Igor Strawinsky mit dem georgischen Pianisten Alexander Toradze an den Anfang. Es folgten zwei der bekanntesten Instrumentalwerke von Arvo Pärt, „Fratres“ und „Tabula rasa“, die in den Soloviolinparts mit Mikhail Simonyan und Andrea Kim besetzt waren.
Das Konzert des Spohr Kammerorchesters Kassel in der ausverkauften Alten Brüderkirche mit den Solisten Katalin Hercegh und Wolfram Geiss bot eine außergewöhnliche Programmfolge mit Werken von Händel über Bruch, dem berühmten Violinkonzert von Hartmann, den „Fratres“ von Pärt bis hin zu Beethovens Streichquartett op. 95 in der Bearbeitung von Gustav Mahler.
Das Abschlusskonzert Welt im neuen Licht - Musik des Südens mit dem italienischen Ensemble „La Venexiana“ und der überragenden Sopranistin Roberta Mameli bot einen versöhnlichen Ausklang des Festivals mit prächtigen barocken Opernarien von Händel, Monteverdi und Vivaldi.
Als Begleitveranstaltungen wurden gut angenommen die beiden Historischen Stadtspaziergänge „Heinrich Schütz in Kassel“ mit Karl Hermann Wegner, die wissenschaftlichen Vorträge „Heinrich Schütz in Europa“ (Silke Leopold) und „Heinrich Schütz in Kassel“ von Prof. Dr. Werner Breig und die beiden Chorseminare für Teilnehmer des Schützfestes zur Vorbereitung des Festgottesdienstes.
Zwei Ausstellungen begleiteten die Veranstaltungen in Kassel: Das Museum für Sepulkralkultur zeigte in seiner Ausstellung zur „Protestantischen Begräbniskultur der frühen Neuzeit“ als Prunkstück den Sarg des Grafen Heinrich Posthumus von Reuß, der als Inschriften die „Musikalischen Exequien“ von Schütz darstellt. Und in der Landes- und Murhardschen Bibliothek Kassel waren die zahlreichen wertvollen Autographen und Musikdrucke der Werke von Schütz zu sehen, die hier im Original vorhanden sind.