(openPR) Stuttgart, 3. August 2009 - 33 Euro Fallpauschale pro Patient und Quartal stehen einem niedergelassenen Psychiater zur Verfügung, 42 Euro einem Neurologen: Die Budget-Regelung der Gesundheitsreform trifft eine ärztliche Berufsgruppe besonders hart, bei der die zeitintensive Versorgung des einzelnen Patienten im Vordergrund steht.
Auf die finanziellen und strukturellen Missstände in Folge der aktuellen Gesundheitspolitik aufmerksam zu machen war Thema der gesundheitspolitischen Tagung des Landesverbandes Baden-Württemberg des BVDN (Berufsverband Deutscher Nervenärzte, www.bvdn.de) am 28. Juli in Stuttgart.
Die Mischkalkulation, mit der etwa allgemeinmedizinische Praxen der Budgetierung begegnen, greift bei psychiatrischen Praxen kaum. Tragen sonst Patienten, die nur einmal im Quartal kommen, zeitintensive Behandlungen chronisch Erkrankter mit, so bedarf der klassische psychiatrische Patient einer langfristigen regelmäßigen Betreuung.
Dabei steht in besonderem Maße die vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient im Mittelpunkt einer erfolgreichen Therapie. Der Aufbau einer solchen langfristigen Beziehung setzt aber zwingend voraus, dass der Therapeut sich Zeit für den einzelnen Patienten nehmen kann.
Dem steht die zunehmende Fremdbestimmung des Arztes durch die Regularien der Versorgungssysteme entgegen, führte Dr. Herbert Scheiblich aus, Vorsitzender des BVDN-Landesverbandes und niedergelassener Psychiater und Psychotherapeut. Die „Entmündigung von Arzt und Patient durch Krankenkassen, Verwaltung und Kostenmanagement“ sei die Folge, ein eigenverantwortliches Therapiekonzept werde nahezu unmöglich.
Diese Gesamtsituation nannte Dr. Scheiblich als maßgebliche Ursache für den gravierenden Nachwuchsmangel unter deutschen Psychiatern und Neurologen. Deren Durchschnittsalter liegt zur Zeit bei 56,4 Jahren; die Suizidrate ist die höchste aller Berufsgruppen hierzulande.
Während immer mehr psychiatrische Praxen aus wirtschaftlichen Gründen schließen müssen, nimmt zugleich die Zahl der psychischen Erkrankungen zu. Einer aktuellen Studie der Betriebskrankenkassen zufolge wird mittlerweile jeder zehnte Krankheitstag von einer psychischen Erkrankung verursacht, mit steigender Tendenz. Gerade in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise nehmen Depressionen und Angsterkrankungen zu, während immer weniger gesellschaftliche Ressourcen für deren Behandlung zur Verfügung stehen.
Die Rationalisierung und „Industrialisierung“ unserer medizinischen Versorgungssysteme, die den Patienten nur noch als Teil der Wertschöpfungskette definiert, stand im Zentrum des Vortrags von Renate Hartwig, Buchautorin („Der verkaufte Patient“) und engagierte Kritikerin der aktuellen Gesundheitspolitik. Eindringlich warnte sie vor der Übernahme der ambulanten Versorgung durch Kapitalgesellschaften in Form von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), welche die niedergelassenen Ärzte zunehmend verdrängten. Dies bestätigte auch der nächste Sprecher, der gesundheitspolitische Experte und stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Dr. Wolfgang Zöller. Bereits heute würden die rund 1.000 deutschen MVZ zu 50 Prozent von Kapitalgesellschaften geführt. Setze sich diese Entwicklung ohne gesetzliche Einschränkungen fort, sei die flächendeckende Versorgung der Patienten durch Haus- und Fachärzte innerhalb von zwei bis drei Jahren erledigt, so Zöller. Dem wolle die Union im Falle entsprechender Mehrheiten bei der anstehenden Bundestagswahl mit einer Reihe von Sofortmaßnahmen begegnen: Der Streichung der Krankenkassen-Rabattverträge mit der Pharmaindustrie, der Überprüfung der Praxisgebühr sowie einer rechtssicheren Einschränkung der Medizinischen Versorgungszentren.
Bezogen auf die Berufsgruppe der Neurologen und Psychiater fasste Dr. Scheiblich als Tagungsergebnis die notwendigen Zielvorgaben an die Gesundheitspolitik zusammen: Die Schaffung klarer Rahmenbedingungen mit ausreichenden Zeitvolumina für die Versorgung der Patienten, die Gewährleistung einer Wohnort nahen und flächendeckenden ambulanten Versorgung, eine sachgerechte Vergütung, und die Entscheidungskompetenz des Neurologen und Psychiaters als Fall-Manager unter Einbeziehung und Mitspracherecht des Patienten.