(openPR) Einschüchterung von Zeugen, Gewalt gegen Demonstranten IGFM: Grundrechte massiv verletzt, Verfahrensgrundsätze missachtet
Hanoi / Frankfurt am Main, 28. November 2007 – Die Verhandlung des Berufungsverfahrens gegen den Rechtsanwalt Nguyen Van Dai und die Rechtsanwältin Le Thi Cong Nhan fand am 27. November erneut unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das Oberste Volksgericht von Hanoi setzte sich auch damit über internationale Rechtsstandards hinweg, obwohl die vietnamesische Regierung westlichen Diplomaten zugesichert hatte, Recht walten zu lassen. Nach Angaben der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) wurde das Strafmaß für die beiden Rechtsanwälte, die in der Hauptverhandlung am 11. Mai 2007 wegen „Propaganda gegen die Sozialistische Republik Vietnam“ nach Art. 88 des vietnamesischen Strafgesetzbuches (StGB) zu fünf Jahren Haft und vier Jahren Hausarrest (Dai) bzw. vier Jahren Haft und drei Jahren Hausarrest (Nhan) verurteilt worden waren, lediglich um je ein Jahr Haft reduziert.
Die Verurteilten kündigten an, erneut Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Der Rechtsanwalt Dai hatte sich durch seinen engagierten Einsatz für die Religionsfreiheit von Christen in Vietnam einen Ruf weit über die Landesgrenzen geschaffen. Die IGFM hatte schon nach dem Urteilsspruch der Hauptverhandlung im Mai an die EU appelliert, im Menschenrechtsdialog mit Vietnam die in diesem Jahr initiierte Prozesslawine zu thematisieren und dabei keine diplomatischen Rücksichten zu nehmen. Die in Frankfurt ansässige Menschenrechtsgesellschaft hatte sich mit der Bitte um Intervention an den Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, gewandt, der am Prozesstag Vietnam besuchte. Angesichts des Verfahrensablaufs und des Urteils äußerte sich die IGFM enttäuscht über das wenige, was Barroso für die Menschenrechte in Vietnam erreicht hat.
In der Anklageschrift der Hauptverhandlung wurde den inhaftierten Rechtsanwälten Dai und Nhan vorgeworfen, sie hätten „reaktionäre Schriften“ gesammelt, gehortet und verbreitet sowie Radiointerviews an ausländische Sender gegeben und Menschenrechtserziehungskurse betrieben. In zahlreichen Staatszeitungen, die schon zwei Monate vor Beginn des Verfahrens eine Schmähkampagne gegen die inhaftierten Rechtsanwälte geführt hatten, wurde auch ihre Menschenrechtsarbeit verurteilt. Sie hätten „die westliche Version der Menschenrechte“ vertreten und Informationen über Menschenrechtsverletzungen – insbesondere über die Verfolgung von ethnischen Christen in Nordvietnam – an das Ausland geliefert. Ausländische Organisationen hätten diese Informationen genutzt, um den Ruf des vietnamesischen Staates zu schädigen. Die vietnamesische Staatsanwaltschaft in Hanoi stufte die Aktivitäten der Rechtsanwälte als „gefährlich und systematisch“ ein.
Rechtsanwalt Nguyen Van Dai hatte viele evangelische Christen vor Gericht vertreten, die im Zuge ihrer Verfolgung in Prozesse hineingezogen worden waren, darunter die über die Landesgrenzen Vietnams hinaus bekannten Pastoren Nguyen Hong Quang und Than Van Truong. Die Juristin Le Thi Cong Nhan ist Sprecherin der Progressiven Partei Vietnams, deren Berater der katholische Pfarrer Nguyen Van Ly ist. Pfarrer Ly, der bereits mehrmals seines Glaubens wegen insgesamt fast 20 Jahre inhaftiert war, wurde bereits am 30. März zu weiteren acht Jahren Haft und anschließenden fünf Jahren Hausarrest verurteilt. Nach ihrer Verhaftung am 6. März wurden Rechtsanwalt Dai und Rechtsanwältin Nhan aus der Rechtsanwaltskammer ausgeschlossen. Anschließend erteilte ihnen das Justizamt der Stadt Hanoi ein Berufsverbot.
Die grundsätzliche Bedeutung des Berufungsverfahrens gegen die beiden Rechtsanwälte werde nach Meinung der IGFM auch dadurch unterstrichen, dass zahlreiche Kollegen hinter vorgehaltener Hand um Verständnis dafür baten, dass sie den Fall nicht annehmen könnten, weil sie um ihre eigene Sicherheit bangen müssten. „Das Urteil stand fest und sollte nur noch bestätigt werden“, so die IGFM. „Der Tenor in den Staatsmedien verfolgte konsequent nur das eine Ziel, die vermeintlich Schuldigen zu bestrafen. Im Fernsehen wurden sie in gestreifter Häftlingskleidung vorgeführt. Familienangehörige berichteten von einer unerträglichen feindseligen Stimmung in der Gesellschaft gegen sie.“
Unfairer Prozess - Saal mit 190 Plätzen für bestelltes Publikum, nur zwei Plätze für Familienangehörige
Nach Beschwerden zahlreicher westlicher Diplomaten, die die Hauptverhandlung im Mai nur aus einem Nebenraum über einen Bildschirm verfolgen konnten, hatte die vietnamesische Regierung diesmal einen Musterprozess versprochen. Aber wie schon im ersten Verfahren bekam auch diesmal nur je ein Familienangehöriger der Angeklagten die Genehmigung zum Betreten des Gerichtssaals. Die Ehefrau von Dai und die Mutter von Nhan waren die einzigen Angehörigen in einem Saal mit rund 190 Plätzen. Die sog. „Öffentlichkeit“ im Gerichtssaal bestand aus einem bestellten Publikum von Staatsbediensten. Dieses Publikum, so die IGFM, habe die Aufgabe, gegen die Äußerungen der Verteidigung zu protestieren und sie durch Zwischenrufe einzuschüchtern.
Der Richter unterbrach mehrmals die fünf Verteidiger, sobald diese versuchten, das Gericht an seine Pflicht zur Gewährleistung des Rechts auf Meinungsfreiheit nach Maßstäben des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR), den Vietnam im 1982 ratifiziert hat, zu erinnern. Die Verteidiger stellten ferner fest, dass der Artikel 88 des vietnamesischen StGB verfassungswidrig ist. Die von der Staatsanwaltschaft vorgetragenen allgemeinen Schuldvorwürfe reichten jedoch nach sechs Stunden dem Vorsitzenden Richter aus, um ohne Vorlage eines Beweises schließlich das Urteil zu sprechen.
Anhörung von Entlastungszeugen verhindert - Ein Zeuge vor dem Verfahren von Polizisten zusammengeschlagen
Die Forderung der Verteidigung, alle Personen, die im erstinstanzlichen Urteil genannt wurden, zur Berufungsverhandlung einzuladen und anzuhören, da bei der Hauptverhandlung im Mai kein Entlastungszeuge angehört worden war, wurde abgelehnt. Die Zeugen im Ausland, darunter Herr Vu Quoc Dung, IGFM-Asienreferent, erhielten keine Vorladung des Hanoier Gerichts. Pham Van Troi, Mitglied des Komitees für Menschenrechte in Vietnam, der als Entlastungszeuge gehört werden wollte, wurde vor Betreten des Obersten Gerichts von der Polizei verhaftet, zu einer benachbarten Polizeistation gebracht und dort von mehreren Polizisten zusammengeschlagen. Nach neunstündigem Gewahrsam wurde er am späten Nachmittag freigelassen. Im Gerichtssaal hatte der Richter hingegen verkündet, dass der Zeuge sich für seine Abwesenheit schriftlich entschuldigt hätte. Troi, der offiziell vom Gericht vorgeladen worden war, wurde in den Tagen vor Verfahrensbeginn mehrmals von der Polizei bedroht, er solle zu seinem eigenen Schutz nicht nach Hanoi fahren. Nach Information der IGFM hatte die Verteidigung 17 Zeugen eingeladen. Nur sechs von ihnen bekamen eine Vorladung des Gerichts, darunter zwei Entlastungszeugen.
Polizei setzt Rowdies ein, um Gewalt gegen Demonstranten zu provozieren
Rund einhundert Personen, die sich vor dem Gericht versammelt hatten, um ihre Unterstützung für Dai und Nhan zu bekunden, waren entrüstet über die Parteilichkeit des Gerichts. Die Polizei, die zunächst versuchte, die Demonstranten, darunter junge Rechtsanwälte, Dissidenten, Opfer des sozialen Unrechts, evangelische Christen sowie Familienangehörigen der Angeklagten, zurückzudrängen, setzte laut Augenzeugenberichten Rowdies ein, die Gewalttaten provozieren sollten, um härter gegen die Demonstranten vorgehen zu können. Einige Dutzende Demonstranten wurden vorübergehend festgehalten.
Großes Interesse der Öffentlichkeit – Prozessbeobachtung nur auf dem Bildschirm
Schon seit mehreren Monaten forderten die EU und die USA die Freilassung der beiden Anwälte. Noch am 23. Oktober 2007 hatte eine Delegation der US Kommission für Internationale Religionsfreiheit Dai und Nhan im Gefängnis besucht und ihnen jeweils eine Bibel geschenkt. Vertreter von ausländischen Botschaften in Hanoi, die den Prozess beobachten wollten, wurden wie bei der Hauptverhandlung auch zum Berufungsverfahren nicht zugelassen und wurden in ein Nebenzimmer geführt, wo sie die Verhandlung am Bildschirm verfolgen konnten. Diese Prozessbeobachter hatten um ihre Teilnahme gebangt, weil sie bis zum Vortag keine Antwort auf ihren Antrag erhalten hatten.
Verstoß gegen den internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR)
Im Vorfeld des Berufungsverfahrens hatten sich die Angehörigen der Angeklagten mit zwei Plädoyers an die vietnamesische Staatsführung gewandt. Die Ehefrau von RA Nguyen Van Dai verwies unter anderem auf die bedingungslose Anerkennung internationaler Rechtsstandards durch die Ratifikation des Internationalen Paktes für Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR) durch Vietnam. Außerdem habe das vietnamesische Parlament im Jahr 2005 das „Gesetz über die Unterzeichnung, Beitritt und Implementierung von Internationalen Abkommen“ verabschiedet. Art. 6 dieses Gesetzes schreibe vor, dass die Anwendung des internationalen Rechts, dem Vietnam beigetreten ist, zu bevorzugen sei, wenn diese mit dem vietnamesischen Recht in Konflikt stehe. Art. 88 des vietnamesischen StGB müsse daher gestrichen werden, da er gegen die durch Art. 19 IPBPR geschützte Meinungs- und Redefreiheit verstoße. Da ihr Mann lediglich sein Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt habe, sei er unschuldig.
Die Mutter der Rechtsanwältin Le Thi Cong Nhan plädierte ebenfalls für eine sofortige Freilassung ihrer Tochter. Da der vietnamesische Staatspräsident stets behaupte, dass Meinungsverschiedenheit in Vietnam nicht strafbar sei, sei die Inhaftierung ihrer Tochter entweder ein Wortbruch oder stehe im Widerspruch zum Wort des Präsidenten. Sie bestätigte, dass ihre Tochter eine Andersdenkende sei, aber daran sei nichts Falsches oder Schlechtes zu finden.
Die Plädoyers (englische Versionen) der Ehefrau des Rechtsanwalts Nguyen Van Dai und der Mutter von Rechtsanwältin Le Thi Cong Nhan sowie Bilder des Prozesses sind über die IGFM erhältlich (
