(openPR) Über zwei Monate verschobene Bilanzsitzung am 20.02.2013 in Berlin
Berlin/Deutschland - Nachdem vor fast 3 Jahren unzählige sexuelle Übergriffe an Schutzbefohlenen in
staatlichen sowie kirchlichen Institutionen bekannt wurden, begann im März 2010 die Arbeit des Runden Tisches zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen.
Anlässlich der Überprüfung, welche der Empfehlungen aus dem am 30.11.2011 veröffentlichten Abschlussbericht des Runden Tischs umgesetzt werden konnten, wurde bereits für den 12.12.2012 ein Bilanztreffen terminiert. Allerdings konnte dieses infolge der zu dem Zeitpunkt dominierend geführten Diskussion über die religiös motivierte Beschneidung bei Jungen und der Abwesenheit der verantwortlichen politischen Vertreter nicht stattfinden. Sowohl der Schutz von Kindern und Jugendlichen, als auch die Lebenssituation erwachsener Betroffener sollten verbessert werden, so geht es aus den Empfehlungen des Abschlussberichts hervor. Um die Frage zu beantworten, was sich seit der Abschlusssitzung des Runden Tischs vor über einem Jahr tatsächlich verändert hat, treffen sich die Verantwortlichen am 20.02.2013 in Berlin.
Positiv
Durchaus positiv zu bemerken sind die Einführung des erweiterten Führungszeugnisses für Personen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, die Kampagnen zur Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit und das Investieren in die Forschung sowie das Fortführen der Arbeit von Dr. Christine Bergmann durch den neuen Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Johannes-Wilhelm Rörig.
Ergänzendes Hilfesystem
An den Folgen des sexuellen Missbrauchs tragen die Betroffenen oft ein Leben lang. Neben psychischen Erkrankungen kann es zu Lebenskrisen unterschiedlicher Art kommen. Körperliche Langzeitfolgen führen nicht selten zu langjähriger Arbeitsunfähigkeit oder Frühverrentung. Mit dem Ziel diese Folgen zu mildern, wurde im Abschlussbericht des Runden Tisches die Schaffung eines ergänzenden Hilfesystems zugunsten der Opfer auch familiärer sexueller Gewalt beschlossen.
Demnach sollten für Betroffene Sachleistungen finanziert werden, die derzeit von den sozialen Hilfesystemen nicht oder nicht ausreichend lang übernommen werden: Therapiestunden über den von den Krankenkassen getragenen Umfang hinaus, Fahrkarten zu Treffen von Selbsthilfeorganisationen oder Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßmahmen. Dafür stellte die Bundesregierung 50 Millionen Euro zur Verfügung, weitere 50 Millionen sollten von den
Bundesländern bereit gestellt werden.
Obwohl die Länder bereit wären, Ihrer Verantwortung gegenüber Betroffenen aus staatlichen
Erziehungsinstitutionen gerecht zu werden, wurden bei der Jugend- und Familienministerkonferenz im vergangenen März hinsichtlich der Einbeziehung derer, die im familiären Kontext missbraucht worden sind, Vorbehalte deutlich gemacht. So lehnen einige der Länder bis zum jetzigen Zeitpunkt die Umsetzung dieser Empfehlung ab, infolge dessen Betroffene nicht die Hilfe erhalten, die sie dringend benötigen. Stattdessen sollten jene Betroffene eindeutige Rechtsansprüche auf bedarfsgerechte Hilfen im Regelsystem erhalten.
Das Argument, für die Umsetzung dieser Empfehlungen fehle es an einer Finanzierungsgrundlage, kann in diesem Fall nicht entsprochen werden, betrachtet man beispielsweise die Trauma-Folgekosten-Studie aus dem Jahr 2009. Demzufolge nehmen die Kosten der Versicherungsgesellschaften zur Behandlung der Langzeitfolgen von Betroffenen sexuellen Missbrauchs ein erhebliches Ausmaß an: Jährlich muss von einem Betrag zwischen 500 Millionen und 3 Milliarden Euro ausgegangen werden. Der für das ergänzende Hilfesystem geforderte Betrag von 50 Millionen Euro ist nicht einmal annähernd so hoch, als dass ernsthaft von einer fehlenden Finanzierungsgrundlage gesprochen werden könnte.
Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs
Wir befürworten und bestätigen den Beschluss des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Bundesregierung vom 28. März 2012 und teilen die Auffassung einer gemeinsamen
gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Dieser Verantwortung könnten die politischen
Entscheidungsträger u.a. mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern
sexuellen Missbrauchs (StORMG) gerecht werden. Der Entwurf hierzu vom Juni 2011 sieht die Ausweitung der Möglichkeiten anwaltlichen Beistandes, den verstärkten Einsatz von Videoaufnahmen zur Vermeidung von Mehrfachvernehmungen sowie die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen vor, liegt allerdings seit 20 Monaten im Rechtsausschuss. 20 Monate sind verstrichen, ohne dass es auch nur ansatzweise zur Verwirklichung kam. Das könnte, sollte er dort nicht in absehbarer Zeit auf die Tagesordnung gesetzt werden, aufgrund des Diskontinuität-Prinzips dazu führen, dass er völlig neu erarbeitet werden muss. Das würde erneut sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, ohne dass sich etwas verändert.
Enttäuschend: Um die Bereitstellung der finanziellen Mittel für das ergänzende Hilfesystem zu umgehen, sprachen sich einige Länder für die Einführung eindeutiger Rechtsansprüche für Betroffene aus, um ihnen die Inanspruchnahme von Hilfen im Regelsystem zu ermöglichen. Doch wie sich am Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs unschwer erkennen lässt, ist eine Veränderung in diesem Bereich in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Psychotherapeutische Versorgung
Für Betroffene kommt zusätzlich erschwerend hinzu, dass trotz gegenteiliger Aussagen des
Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) kein flächendeckendes Netz an kompetenter
psychotherapeutischer Versorgung zur Verfügung steht. Dies ist wohl nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass kein ausreichender Rahmen für das Aufgreifen der Thematik bei der aktuellen Ausbildungsordnung von Ärzten und Psychotherapeuten gegeben ist. Dementsprechend lang sind die Wartelisten der wenigen Fähigen, oder es fehlt die notwendige kassenärztliche Zulassung. Das wird uns leider von Suchenden immer wieder bestätigt, was die Notwendigkeit der Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tischs nur bestärkt.
Fazit
Besonders Schade: Die Verschiebung des Bilanztreffens auf den 20.02.2013 sollte den Ländern die
Möglichkeit eröffnen, sich im Vorfeld zusammen mit dem Bund an dem ergänzenden Hilfesystem zugunsten der Opfer sexuellen Missbrauchs insbesondere im familiären Bereich zu beteiligen. Diese Möglichkeit wurde offensichtlich nicht genutzt.
Wir müssen mit Bedauern feststellen, dass nach 3 Jahren öffentlicher Diskussion in Bezug auf
institutioneller und familiärer sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche keine nachhaltige und
ausreichende Verbesserung der Situation der Betroffenen erreicht wurde. Die Betroffenen haben nach wie vor keine Möglichkeit auf eine angemessene Entschädigung erhalten und es wurden trotz gegenteiliger Aussagen keine Regelungen entwickelt, nach denen Entschädigung und Unterstützung zu erfolgen hätten.
Bisher konnte die deutsche Regierung ihrer Verantwortung gegenüber Betroffenen aus der Vergangenheit nicht gerecht werden.
Wir fordern die Verantwortlichen daher auf, noch vor Ende dieser Legislaturperiode eine Verbesserung der Situation der Betroffenen in Form entsprechender Gesetzesentwürfe auf den Weg zu bringen. Andernfalls wäre es beispielsweise für das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs zu spät.
Die Rechte von Kindern und Jugendlichen müssen endlich vollständig anerkannt werden. Täter und
Institutionen, die vorsätzlich bzw. fahrlässig Missbrauchstaten befördert oder geduldet haben, müssen dafür juristisch und finanziell zur Verantwortung gezogen werden.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig bewertete die politische
Umsetzung bei den Hilfen und beim Opferschutz trotz einzelner positiver Signale in einer Pressemitteilung vom 6.12.2012 insgesamt als nicht zufriedenstellend. Die höhere Sensibilität in der Gesellschaft hätte noch nicht dazu geführt, dass sich die Lage Betroffener sexualisierter Gewalt durch aktives Handeln von Bund, Ländern und Kommunen tatsächlich verbessert hat.
Weiter bestätigt Rörig, dass im vergangenen Jahr eindeutig zu wenig für die Missbrauchsopfer erreicht worden ist, das wäre knapp 3 Jahre nach Einrichtung des Runden Tischs für Betroffene bitter. Die Verzögerungen zu Lasten der Betroffenen infolge der Verschiebung des Bilanztreffens sind nach deren Empfinden zusätzlich als katastrophal einzustufen.
Obgleich die Sichtweise der Betroffenen als eine erste wichtige Arbeitsgrundlage für Politik und Gesellschaft angesehen wird und wiederholt darauf hinwiesen wurde, konnte bisher für keine der Empfehlungen aus dem Abschlussbericht ein fester Zeitpunkt für die Umsetzung terminiert werden.
Aus diesem Grund sind die Arbeitspapiere und der Abschlussbericht des Runden Tischs lediglich als ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation von Betroffenen zu betrachten. Der nächste Schritt muss die Umsetzung der Empfehlungen sein. Dafür allerdings bedarf es in erster Linie eines verbindlichen Zeitrahmens und des politischen Willens aller Parteien.