(openPR) Eine Orignalgraphik unterscheidet sich von der Reproduktionsgraphik darin, dass die originale Graphik oder Künstlergraphik als originales Werk entstanden ist und nicht in einem anderem Medium exisitiert, also keine Nachbildung (Reproduktion) eines vorhandenen Gemäldes, einer Zeichnung oder eines Aquarells darstellt. Der Künstler zeichnet entweder direkt auf das Druckmedium, oder aber er fertigt – wie im 21. Jh. am gebräuchlichsten – eine eigene Zeichnung auf Umdruckpapier an, die vom Drucker auf das Druckmedium übertragen wird. Nach dem Abziehen einiger Probedrucke entscheidet der Künstler über das „Gut zum Druck“-Exemplar oder „Bon-à-Tirer“, das als Vorlage für den vorher festgelegten Auflagendruck dient. Nach dem Auflagendruck wird das drucktechnische Medium – Lithostein, Radierplatte, Drucksieb – unbrauchbar gemacht.
Die Auflagenlimitierung bei Originalgraphiken ist erst seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aufgekommen. Es handelt sich um die informelle Vereinbarung zwischen Verlegern, Künstlern und Sammlern, die künstlerische Originalgraphik, sofern sie in Auflagen gedruckt wurde, durch rigorose Limitierung künstlich zu verknappen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Künstlergraphik mit einem neuen Medium, dem der Photographie, und in deren Gefolge mit dem der photomechanischen Reproduktion, auseinanderzusetzen. Ein in der Graphik dilettierender Arzt, Seymour Haden, war vielleicht der letzte Vertreter jener Radierer, die altmodisch genug waren, in Ihren Radierplatten eine Art Wertpapier zu sehen. In regelmäßigen Abständen schnitt er sich seine Coupons, Abzüge genannt, von der Aktie. Damit er möglichst viele Drucke abziehen konnte, wandte er das Verfahren der Plattenverstählung an, das in seiner Jugend in Paris erfunden wurde. Die Verstählung ermöglichte es ihm, immer wieder neue Auflagen von seinen Radier- und Kaltnadelplatten abzuziehen, in einigen Fällen über einen Zeitraum von bis zu 40 Jahren [vgl. Ivins, S.73]. Haden hatte aber begriffen, dass die traditionelle Produktionsweise der Künstlergraphik gefährdet war. Der Bilderkonsum richtete sich immer mehr auf die preiswerten Drucke, die mit den soeben erfundenen Reproduktionsverfahren hergestellt wurden. Es galt daher, der Künstlergraphik eine besondere Aura zu verschaffen, um sie von der industriellen Massenware abzuheben. "Originalradierung" als ein vom kommerziellen Getriebe abge¬schiedenes und nur von der Sensibilität des gestaltenden Individuums zugängliches Feld – dies war nach verbreiteter Meinung eine Forderung der Epoche [Mayer S.137]. Seymor Haden war es vor allem, der seine Radierungen zusätzlich auf den Abdrucken mit dem Namenszug versah (mit Bleistift – gegen eine Gebühr von einer Guinee –, die der Käufer oder Besitzer zu entrichten hatte). Kein Künstler zuvor war auf diesen Einfall, der uns heute selbstverständlich erscheint, gekommen. Das Signieren der Abzüge machte Schule und wurde im 20. Jahrhundert zur Mode, ja fast zum Gesetz. Die Signatur soll das Attest sein, das die Verwandlung eines in einem mechanischen Akt entstandenen Produkts zum Kunstwerk belegt, die Beförderung einer Ver¬vielfältigung zum Original [ Mayer, S. 291].
Mit der Handsignatur des Künstlers wurde die erste ökonomische Differenzierung der Künstlergraphik von der sonstigen Bilderproduktion eingeleitet. Eine zweite Differenzierung folgte nur wenig später: die Auflagenlimitierung. Beide Differenzierungen sollten die Aura des druckgraphischen Blatts erhöhen und seinen Fetischcharakter stärken. Adressat solcher Produkte war nicht länger ein bürgerlicher oder adeliger Gelegenheitskäufer, der Wandschmuck erwerben wollte. Als Fetischhüter hatte man vielmehr einen Konsumenten ausgemacht, den man den Sammler nannte.
In dem Maße, in dem der Sammler zum Fetischhüter wurde - denn Sammler von Druckgraphiken gab es ja schon früher - wurde die Funktion der Druckgraphik als Wandschmuck abgewertet. Wenn man heute eine künstlerische Arbeit dekorativ nennt und damit ausdrücken will, dass sie zum Wandschmuck geeignet sei, hat man zugleich das Verdikt über sie ausgesprochen. Die gegenwärtige Ideologie will es, dass affirmative Gesten, wie die Verwendung einer Künstlergraphik als Wandschmuck, als reaktionär und banausenhaft abgetan werden. Kunstwerke, die der Vereinnahmung durch die Gesellschaft trotzen, können nicht schmücken: sie können allenfalls "ausgestellt", besser noch "installiert" werden. Diese Entwicklung hat zwei Wurzeln, eine gesellschaftskritische und eine kunstimmanente. Gleichwohl lässt sich der Kunstliebhaber in unserer Zeit nicht davon abbringen, Kunst auch im dekorativen Sinne einzusetzen – und ganz unbeschwert zu genießen.