(openPR) Bonn - Katholizismus und Liberalismus standen über Jahrhunderte in einem Spannungsfeld, waren oft erbitterte Gegner. Der katholische Sozialwissenschaftler Goetz Briefs (1889-1974) war einer jener Brückenbauer zwischen Katholizismus und Liberalismus, die im zwanzigsten Jahrhundert eine Annäherung ermöglichten. Zugleich zählt Briefs zu den vergessenen geistigen Gründervätern der Sozialen Marktwirtschaft. Neben Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack, die als Inspiratoren oder direkte Berater von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard einer interessierten Öffentlichkeit bekannt sind, findet sich sein Name in den Geschichtsbüchern aber nur als Fußnote.
Dabei hatten Briefs Arbeiten zur Betriebssoziologie und zur Gewerkschaftsfrage in (ordo-)liberalen Kreisen vor und nach 1945 durchaus Gewicht. Arnd Klein-Zirbes hat nun an der Bonner Friedrich-Wilhelms-Universität eine Dissertation zu Briefs vorgelegt. Leider streift sie die spannungsreiche Vorgeschichte von Katholizismus und Liberalismus nur, leistet aber den verdienstvollen Beitrag, eine der vergessenen Facetten des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft zu schärfen, die katholisch-konservative nämlich. Die knappe, doch materialreiche und gut lesbare Arbeit bietet einen soliden Überblick über Leben und Werk Briefs. Sie untersucht Briefs’ anfängliche Kritik an Kapitalismus und Marxismus, seine in den Weimarer Jahren entwickelte Betriebssoziologie, seine Ansichten zur Sozialpolitik und zur Gewerkschaftstheorie, sowie schließlich Briefs’ Beitrag zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft.
Goetz Briefs entstammte einer Arbeiterfamilie in Eschweiler bei Aachen. Eine kinderlose Tante ermöglichte ihm das Studium der Nationalökonomie. Nach dem Weltkrieg wurde er 1919 sehr jung Professor in Freiburg, 1926 wechselte er an die Technische Hochschule Berlin. Hier leistete er als Gründer des Instituts für Betriebssoziologie Pionierarbeit. Briefs, der zur Weimarer Zeit der Zentrumspartei nahestand, beobachtete die Machtübernahme der Nationalsozialisten mit wachsender Sorge. 1934, nach der Niederschlagung des so genannten Röhm-Putschs, als die Nationalsozialisten auch mit Mitgliedern der letzten Präsidialkabinette wie Schleicher und anderen Bekannten Briefs’ abrechneten, entschloss sich die Familie zur Emigration. In Amerika gelang es dem deutschen Gelehrten relativ schnell, an der Catholic University of America, ab 1937 an der Georgetown University in Washington Fuß zu fassen, wenn auch die Familie finanziell eher kärglich lebte.
Nach Ende des Kriegs blieb Briefs in den Vereinigten Staaten. Er verfolgte aber Deutschlands Wiederaufbau im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft und die politische Entwicklung mit Interesse und suchte sie publizistisch zu beeinflussen. Sowohl Kanzler Adenauer, den er bereits in den zwanziger Jahren als damaligen Kölner Oberbürgermeister in offizieller Mission kennenlernte, als auch Wirtschaftsminister Erhard beriet Briefs und half ihnen mit Schriften. Diese machten ihn in den fünfziger Jahren als profilierten Kritiker marxistisch unterwanderter Gewerkschaften bekannt. Weiter stand Briefs dem Bund Katholischer Unternehmer als Redner zur Verfügung und wirkte im Vorstand der von Rüstow geleiteten Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) mit, einem schlagkräftigen ordoliberalen „Think Tank“, der Erhards Vision von „Wohlstand für Alle“ wissenschaftlich unterfütterte.
Klein-Zirbes erwähnt nicht die Mitgliedschaft Goetz Briefs’ in der Mont Pèlerin Society (MPS), der von Friedrich August von Hayek initiierten, weltweit wohl bedeutendsten Vereinigung (neo-)liberaler Wissenschaftler. Diese Verbindung des katholischen Konservativen zum Zentrum der intellektuellen Konterarmee, die langfristig eine Wende zur mehr Markt und weniger Staat einleitete, verdeutlicht zum einen die weltanschauliche Spannbreite des frühen Neoliberalismus, der sich ursprünglich durch Abgrenzung vom Laissez-Faire zu profilieren suchte. Zum anderen ist Briefs’ Mitgliedschaft in der MPS auch Zeugnis seiner eigenen ideologischen Wandlung vom Kapitalismuskritiker und Anwalt der Gewerkschaften zu einem Feind jeglichen Kollektivismus und überzeugten Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft.
In seinem frühem Hauptwerk „Das gewerbliche Proletariat“ von 1926 zeigte Briefs noch deutliche Nähe zu einem christlich motivierten Sozialismus. Er sprach den Gewerkschaften ein historisches Verdienst bei der organisatorischen Unterstützung der Arbeiterschaft zu. Den Schlüssel für die Überwindung der gesellschaftlichen Spannungen im Kapitalismus sah Briefs aber schon damals nicht in der Abschaffung des Privateigentums. Den Marxismus lehnte Briefs als gefährlichen pseudoreligiösen Irrglauben ab. Briefs’ Ziel war dagegen die „Befriedung“ der Arbeitswelt durch betriebliche Sozialmaßnahmen als Ergänzung zu staatlicher Sozialpolitik. Darüber hinaus forderte er eine geistig-moralische Wende: die Wiederverwurzelung der proletarisierten Massen in Eigentum und subsidiären Gemeinschaften, schließlich Hilfen für ihren Aufstieg in den Mittelstand.
Die Gewerkschaften, deren anfängliche „Bewegungsphase“ er 1926 so positiv darstellte, unterzog Briefs 1952 in seinem Buch „Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus. Die Gewerkschaften am Scheideweg“ einer scharfen Kritik. Er erkannte eine Entwicklung zu „befestigten Gewerkschaften“ (established labor unions), also schädlichen Arbeitsmarktkartellen, die die ganze Volkswirtschaft durchdringen und lähmen. Auf Kosten der Lohnflexibilität und des Wirtschaftswachstums für alle betrieben jene einseitige Interessenpolitik, kritisierte Briefs. Überhaupt erscheint ihm die Daseinsberechtigung klassenkämpferischer Gewerkschaften in der Nachkriegszeit zunehmend zweifelhaft. Unverantwortliche Lohnabschlüsse, schreibt Briefs in den siebziger Jahren zur Zeit der ersten Öl-Krise, störten das Marktgleichgewicht, könnten die Preisstabilität gefährden und Unternehmen zu Standortverlagerungen zwingen.
Klein-Zirbes erklärt die Wandlung Briefs’ vom Gewerkschaftsfreund zum Gewerkschaftskritiker einerseits mit dem biographischen Bruch der Emigration in die Vereinigten Staaten, wo Briefs Bekanntschaft mit Joseph Schumpeter und dessen Lehre vom dynamischen Unternehmer machte. Andererseits, und dieser Faktor trägt langfristiger, spiegelt sich in Briefs Weg auch den langfristigen Wandel der katholischen Soziallehre hin zu liberaleren Positionen. Gerade diesen Punkt handelt Klein-Zirbes aber zu oberflächlich ab. Goetz Briefs’ Bemühungen, einen Ausgleich zwischen christlichem Sozialdenken und (ordo-)liberaler Wirtschaftslehre zu schaffen, gehören zu jenen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, die in Zeiten fortschreitender Säkularisierung und Globalisierung mehr Beachtung verdienten.
Arnd Klein-Zirbes: Der Beitrag von Goetz Briefs zur Grundlegung der Sozialen Marktwirtschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang 2004, 159 Seiten, 34 Euro.







