(openPR) Arbeitskreis Sonderschulen Rhein Neckar e.V. sieht weiterhin Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung der Inklusion und der Qualitätssicherung an den Sonderschulen
Bensheim, den 12.12.16
Der Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar blickt auf ein ereignisreiches und arbeitsintensives Jahr zurück. Schwerpunkt der Arbeit des letzten Jahres war, wie auch schon im Vorjahr, die kritische Begleitung der immer noch stattfinden Diskussion um „Gemeinsamen Unterricht“ (GU) behinderter und nichtbehinderter Kinder. Der Verein hat an zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen zu diesem Thema und dem Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes für Baden-Württemberg teilgenommen, insbesondere an den in der Rhein-Neckar Region von den MdL Kleinböck und Sckerl organisierten runden Tischen in Weinheim und Ladenburg.
Der Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar e.V. stellt in diesem Zusammenhang das Wohl der betroffenen Kinder und Eltern in den Vordergrund und wehrt sich gegen jede Ideologisierung der Diskussion.
Bereits am 1. Juli 2015 waren der Arbeitskreis Sonderschulen Rhein-Neckar e.V. zusammen mit 15 Vertretern der Eltern, Selbsthilfe, Kommunen und Kreise, Gewerkschaften, Schulräte und Schulen in freier Trägerschaft zur öffentlichen Anhörung zum neuen Schulgesetz in den Plenarsaal des Landtags in Stuttgart als Experten geladen. Bedingt durch die Landtagswahlen in Baden-Württemberg nahmen Vertreter des Vereins an einer Vielzahl bildungspolitischer Informations-, Diskussions- und Wahlkampfveranstaltungen teil, um auf den aus Elternsicht erforderlichen Nachbesserungsbedarf am zuvor verabschiedeten „neuen“ Schulgesetz hinzuweisen. Nachfolgend sind die wesentlichen Kritikpunkte, die Anfang Dezember auch allen Mitgliedern des damaligen Bildungsausschusses im Stuttgarter Landtag übermittelt wurden, zusammengestellt.
Es dürfen nur dann ausgebildeten Sonderpädagogen von den Stammschulen in die Inklusion abgezogen werden, wenn ein gleichwertiger Ersatz gestellt werden kann. Der hohe Qualitätsstandard an den Sonderschulen (SBBZ) kann nur mit fachspezifisch ausgebildeten Lehr- und Betreuungskräften gehalten werden. Den Sonderschulen (SBBZ) ist nicht geholfen, wenn die „formale Deputatsversorgung“ durch umgeschulte Grund- und Hauptschullehrer aufrecht erhalten wird. Die hohe Fachlichkeit muss erhalten bleiben.
Die zunehmende Versorgung von Inklusionsmaßnahmen -insbesondere in Fällen von Einzelinklusion- führt in den Stammschulen dazu, dass es zu viele Bezugspersonen für die Kinder gibt und es zu häufigen Wechseln der Bezugspersonen kommt. Dies wird durch den hohen Anteil an Teilzeitkräften noch verschärft. Dieser Umstand ist insbesondere für Kinder mit komplexen Behinderungen und für „verhaltenskreative“ Kinder nicht akzeptabel.
Die Ausbildungskapazitäten sowohl im Bereich der FachlehrerInnen, als auch im Bereich der SonderschullehrerInnen sind völlig unzureichend. Im Bereich der FachlehrerInnen wird es durch die Umstellung von 18 Monaten Fachlehrerausbildung auf 3 Jahre Bachelor in den nächsten Jahren zu einer weiteren Verschärfung der Situation kommen.
Vertretungsfragen sind in keinster Weise geregelt. Dies gilt sowohl für die Inklusionsklassen als auch für die Stammschulen.
Die Frage des Einsatzes von Schulbegleitungen ist nur in unzureichender Weise geregelt. Uns sind viele Fälle bekannt, in denen Kinder aufgrund des Ausfalls der Schulbegleitung nicht am Unterricht teilnehmen konnten. Dies gilt sowohl für die Inklusionsklassen, als auch für die Stammschulen. Auch für die Qualifikation von SchulbegleiterInnen gibt es keine verbindlichen Maßstäbe.
Es dürfen keine gut funktionierenden bestehenden Außenklassen zu Gunsten gruppenbezogener Inklusionsmaßnahmen aufgelöst werden. Diese haben sich als Einführungselement zur Inklusion bewährt und Vertrauen in der Schullandschaft, insbesondere bei den allgemeinbildenden Schulen, geschaffen.
Der Begriff „Schule“ muss bleiben, da auch hier weiterhin unterrichtet wird.Kein Kind möchte in ein „Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Schwerpunkt motorische und körperliche Entwicklung“ (SBBZ) gehen. Nur wo Schule dran steht steckt auch Schule und vor allem Schüler drin. Wird durch die Umbenennung die Abschaffung der Sonderschulen als Lernort vorbereitet?
Schule ist nicht nur Lernraum, sondern auch Lebensraum für alle Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Schule muss auch auf das Leben nach der Schule vorbereiten. Wie wird dieses Grundprinzip in der Weiterentwicklung der Schulen umgesetzt? Stehen auch Kindern mit Behinderungen die Ganztagesangebote an allgemeinen Schulen mit den im Einzelfall notwendigen Ressourcen zur Verfügung? Wie wird die gleichberechtigte Teilhabe der Kinder mit Behinderungen auch in den Pausen sowie an den außerunterrichtlichen Veranstaltungen (z.B. Schullandheimaufenthalt) und bei angebotener Ferienbetreuung gewährleistet?
Zu klären ist auch, was Inklusion in den Sekundarstufen und der Berufsausbildung - kein Abschluss ohne Anschluss - heißt. Inklusion spielt sich immer noch vor allem in der Primarstufe ab. Gibt es hier entsprechende Konzepte den Inklusionsgedanken kontinuierlich fortzuführen, oder gibt es nach 12-13 Jahren optimaler Förderung einen Übergang ins Altersheim.
Unterricht, Bewegungsförderung (Physio-, Ergotherapie), Sprachförderung (Logopädie), medizinische Versorgung und Pflege sind untrennbare Bestandteile der Bildung für Kinder mit schweren Behinderungen. Die Frage ist, wie dieser weitergehende Bildungsbegriff umgesetzt werden soll?
Ziel bei den Bildungswegekonferenz (BWK) muss immer in erster Linie das Wohl des Kindes sein. Den Schulämtern kommt große Verantwortung und Bedeutung bei den BWK zu. Wie wird eine fundierte Diagnose der jeweiligen individuellen Behinderung, bzw. Beeinträchtigung und die Dokumentation der diagnosegeleiteten und strukturell verankerten Förderung sichergestellt? 1-2 eingeflogene Wochenstündchen pro Schüler „sonderpädagogische Förderung“ reichen hier definitiv nicht aus. Wird den Eltern das Recht einer unabhängigen Begleitungs- bzw. Beratungsperson eingeräumt? Dies ist wichtig, erst recht im Hinblick auf ein „schwächeres“ Elternhaus. Wir fordern für Schüler und Eltern einen „zentralen“ Ansprechpartner für ALLE mit der Beschulung in Zusammenhang stehenden Fragen.
Was bedeutet „gruppenbezogene Lösungen“ im Einzelfall? Zwischen den spezifischen Unterstützungsbedarfen der verschiedenen Behinderungsarten ist zu differenzieren, und die nicht-offensichtlichen Lernbehinderung wie psychische Behinderung (inbesondere die "leisen" Formen) sind nicht zu bagatellisieren. Der Hausarzt taugt dort eben nicht für die Operation am offenen Herzen! Im Endeffekt darf es nicht dazu führen, dass der Lehrer für Gehörlose den sehbehinderten Schüler in Gebärdensprache unterrichtet.
Das sog. „Zwei-Pädagogen-Prinzip“ muss durchgängig gewährleistet sein! Wir stehen für die Schüler mit verschiedensten, auch komplexen Behinderungsformen, die alle unterschiedliche Bildungsangebote und Rahmenbedingungen brauchen.
Die baulichen und sächlichen Voraussetzungen für gemeinsamen Unterricht müssen rechtzeitig vor der Einschulung der Kinder geschaffen werden, das Schulgebäude muss barrierefrei gestaltet sein, notwendige und spezielle Lehr- und Lernmittel müssen rechtzeitig beschafft und dauerhaft bereitgestellt werden. Geeignete Räume zur Differenzierung, zum Ausruhen, für die menschenwürdige Pflege müssen rechtzeitig bereitstehen.
Die berechtigte Sorge bleibt, dass die Sonderpädagogischen Beratungszentren (SBBZ) „über die Hintertür“ abgeschafft werden – selbst wenn die Schülerzahlen hier stabil sind, oder gar steigen, wie zum Beispiel etwa im Bereich der der Förderung von SchülerInnen mit komplexeren Behinderungen.
Förderschulen (SBBZ mit Förderschwerpunkt Lernen) werden in diesem Land in Zukunft die Qualität, die sie im Moment noch bieten, nicht mehr liefern können und stellen in Folge dessen auch keine echte Wahl mehr für Eltern lernbehinderter Kinder dar. Die Deputatszuweisungen an dieser Schulform wird, nach unseren Informationen, nicht mehr nach der tatsächlichen Schülerzahl, sondern nach der Anzahl der Schüler der dieser Schule zugehörigen Grundschulen erfolgen. Das Elternwahlrecht ist hier akut gefährdet. Trotz steigender Schülerzahlen an dieser Schulart drohen hier massive Stellenstreichungen bereits im laufenden Schuljahr. Wird dies so umgesetzt, kann von gleichwertigen, geschweige denn angemessenen Lernbedingungen keine Rede mehr sein.
Alle Eltern wollen für ihre Kinder, unabhängig vom Lernort, die bestmögliche Bildung. Sie entscheiden sich für die Schule, die die geeignetsten Rahmenbedingungen bietet um später größtmöglich an dieser Gesellschaft teilhaben zu können. Kinder mit komplexen Behinderungen und ebensolchem Hilfebedarf und deren Bedürfnisse werden nach wie vor nur unzureichend berücksichtigt. Darüber hinaus sehen wir den Fortbestand einzelner Sonderschulformen (SBBZ) in ihrem Bestand massiv gefährdet.
Alle Schulen müssen die notwendige personelle, räumliche und sächliche Ausstattung erhalten. Diese Ausstattung muss sich an den tatsächlichen Schülerzahlen und spezifischen Förderbedarfen orientieren. Dies gilt auch für die Zuweisungen im Bereich der Schulleitungen und Konrektoren. Hier sollte die Gesamtzahl der -- durch die jeweilige Schule betreuten Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf-- für die Deputatszuweisung maßgeblich sein.
Sonderschulen (SBBZ) dürfen bei der Verteilung der begrenzt vorhandenen Ressourcen nicht benachteiligt werden, um inklusive Bildungsangebote an den allgemeinbildenden Schulen zu ermöglichen. Nur so kann das bereits bestehende, hochwertige Angebot aufrecht erhalten werden.
Gerade in der personellen Versorgung gibt es nach Ansicht des Arbeitskreises schon eine Unterversorgung, die sich in den kommenden Schuljahren dramatisch zuspitzen wird.
Durch Beschluss der alten grün-roten Regierung sollten ohnehin schon 633 Lehrerstellen bis zum Schuljahr 2017 gestrichen werden. Dazu kommen noch von der jetzigen Kultusministerin aus Einspargründen gestrichene weitere 440 Stellen. Das sind im Ganzen 1074 wegfallende Deputate!
Zwar sind für den Primar- und den Realschulbereich in einem ersten Schritt dann doch 580 Stellen mehr bewilligt worden. Für zentrale, bildungspolitische Projekte wie die Inklusion sollten allerdings die zusätzlich beantragten Stellen aus Kostengründen auf Eis gelegt werden. Nach massiven Protesten des Landeselternbeirates, Behinderten- und Arbeitgeberverbänden hat man sich auf einen ‚schöngerechneten‘ Kompromiss geeinigt:
Von den für den Primarbereich vorgesehenen 320 dringend benötigten neuen Stellen streicht man kurzerhand die Hälfte für dieses Schuljahr um das Projekt Inklusion aufstocken zu können. Ein blanker Hohn, findet doch Inklusion gerade und vor Allem in diesem Schulbereich statt. Die andere Hälfte der Stellen will man im nächsten Schuljahr aus Mitteln für frühkindliche Förderung finanzieren. Ein weiterer Bereich in der Bildungspolitik, der keinesfalls Einsparungen verkraften kann.
Beschlossene Reformprojekte können so formal zwar durchgesetzt werden. Die Ressourcen, die es dafür bräuchte werden allerdings nur unzureichend zur Verfügung gestellt oder an anderer Stelle weggenommen. Eine Rechnung, die zu Lasten unserer Kinder geht!
Vorsitzender des Vereins ist Dr. Stefan Stötzel, Elternbeiratsvorsitzender der Martinsschule in Ladenburg. Zweite Vorsitzende ist Petra Vecchio, Elternbeiratsvorsitzende der Stephen Hawking Schule Neckargemünd. Beisitzer sind Martina Kramer aus Mannheim und Steffi Groh aus Heidelberg. Als Schatzmeister neu im Vorstandsteam ist der ehemalige Schulleiter der Martinsschule Ladenburg, Kurt Gredel, der auch im Ruhestand dem Thema Weiterentwicklung der Sonderpädagogik verbunden bleibt.