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Überlastungsanzeigen: Haftungsrechtliche Entlastungsgrundlage

02.04.201312:00 UhrGesundheit & Medizin

(openPR) Neuss, den 02.04.2013 - Die Geschäftsführung und der Betriebsrat der Sozial-Holding GmbH (größter Anbieter stationärer Altenpflege in Mönchengladbach mit rund 870 Beschäftigten) haben eine Dienstvereinbarung für arbeitsrechtliche Überlastungsanzeigen abgeschlossen.




Werner Schell, Dozent für Pflegerecht und Vorstand von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk, hat folgende Stellungnahme abgegeben:

Es gibt seit Jahren vielseitige Bemühungen, die Qualität in den Gesundheits- und Pflegesystemen zu verbessern und die MitarbeiterInnen in den entsprechenden Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser, ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen) zu motivieren, im Rahmen der geltenden Rechtsvorschriften Anregungen, Verbesserungsvorschläge und Beschwerden bezüglich festgestellter Mängel und Fehler im Betrieb, bei den zuständigen Behörden und auch in der Öffentlichkeit vorzutragen.

Ich selbst habe im Rahmen meiner Lehrtätigkeit bei Aus-, Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen für Pflegekräfte sowie in Buchveröffentlichungen bzw. Zeitschriftenartikeln immer wieder auf die einschlägigen Rechtsregeln aufmerksam gemacht und bin dabei immer wieder auf ein reges Interesse gestoßen. Auch im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an der Katholischen Fachhochschule Köln („Pflegepädagogik“) wurden haftungsrechtliche Fragen umfassend angesprochen mit der Folge, dass einige Studierende (Ender der 90er Jahre) sogar Veranlassung sahen, zur „Überlastungsanzeige“ ihre Hausarbeit zu fertigen.

Es ist bei Kennern der Szene bekannt, dass MitarbeiterInnen, die sich selbstbewusst zu Mängel, Fehlentwicklungen usw. äußern, schnell Nachteile erfahren. Dabei sind (fristlose) Kündigungen keine Seltenheit. Die dann in Anspruch genommenen Gerichte haben überwiegend zum Nachteil der MitarbeiterInnen entschieden. Darauf hat Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk bereits in einer Pressemitteilung vom 04.04.2010 hingewiesen und dabei auf eine mögliche Neufassung des § 612a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aufmerksam gemacht. Mittlerweile ist auch der Deutsche Bundestag mit der Angelegenheit befasst (Aktenzeichen: Pet 2-17-15-2124-026035). Eine solche Neufassung könnte die MitarbeiterInnen in der Pflege ermuntern, sich zeitgerecht und ohne (wesentliche) Nachteile befürchten zu müssen, zur Qualitätsverbesserung mit geeigneten Hinweisen / Vorschlägen einzubringen. Mit dem Antrag von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk, eine Neufassung des § 612a BGB in Erwägungen zu ziehen, sollten auch die Bestrebungen, den allgemeinen Whistleblowerschutz für die Bundesrepublik Deutschland voran zu bringen, unterstützt werden. Insoweit gibt es aber leider vielfältige Widerstände.

Am 21.07.2011 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Az.: 28274/08) in einem Streitverfahren zu Gunsten der ehemaligen Altenpflegerin Brigitte Heinisch (aus Berlin), dass über Pflegemängel in einer Pflegeeinrichtung bei einem Interesse, das gegenüber dem Interesse des Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiegt, öffentlich informiert werden kann. Bei der Urteilsfindung war u.a. bedeutsam, dass die von Brigitte Heinisch beklagten Missstände vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) im Wesentlichen bestätigt worden waren.

Obwohl der inzwischen rechtskräftig gewordenen Entscheidung des EGMR richtungsweisenden Charakter zukommt, sollten ArbeiternehmerInnen bei Mitteilungen / Anzeigen über Pflegemängel die allgemein geltenden Regeln über betriebliche Beschwerden nicht außer Acht lassen. Solange nämlich nicht entsprechend den seit Jahren erhobenen Forderungen von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk eine arbeitnehmerfreundliche Novellierung des § 612a BGB aufgegriffen ist, bleiben bei einer Öffentlichmachung von Mangelsituationen Risiken. Solche Risiken hat auch das Urteil des EGMR, das sich auf einen ganz konkreten Einzelfall bezieht, nicht vollständig beseitigen können.

Das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Köln vom 05.07.2012 - 6 Sa 71/12 – macht erneut deutlich, dass bei Anzeigen gegebenenfalls auf eine unverhältnismäßige Reaktion geschlossen werden und die Verletzung der Arbeitgeberinteressen angenommen werden kann. Das LAG hat mit seiner Entscheidung die fristlose Kündigung einer Hauswirtschafterin für wirksam erklärt, die mit der Betreuung von zwei Kindern im Alter von zehn Monaten und zwei Jahren beschäftigt war und die Eltern der Kinder beim Jugendamt angezeigt hatte.

In den Urteilsgründen des LAG wurde u.a. ausgeführt:

„Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterfallen Anzeigen eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber gesetzlich dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Allerdings hat ein Arbeitnehmer grundsätzlich auch den Ruf des Arbeitgebers zu schützen. Zwischen diesen Rechten und Pflichten ist eine Abwägung vorzunehmen, wenn es um die Frage geht, ob ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer kündigen darf, der ihn anzeigt. Wesentlich ist dabei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter anderem, ob der Arbeitnehmer die Offenlegung in gutem Glauben und in der Überzeugung vorgenommen hat, dass die Information wahr sei, dass sie im öffentlichen Interesse liege und dass keine anderen, diskreteren Mittel existierten, um gegen den angeprangerten Missstand vorzugehen (EGMR vom 21.07.2011 - 28274/08).“
Nach diesen Grundsätzen wies das LAG die Klage der Hauswirtschafterin gegen die fristlose Kündigung ab. Die fristlose Kündigung war ausgesprochen worden, nachdem die Eheleute der Hauswirtschafterin zuvor schon in der Probezeit fristgemäß gekündigt hatten. Die Hauswirtschafterin hatte sich danach an das Jugendamt gewandt und über Verwahrlosung und dadurch hervorgerufene körperliche Schäden der zehn Monate alten Tochter berichtet. Ein kinderärztliches Attest wies dagegen aus, dass die Tochter einen altersgemäß unauffälligen Untersuchungsbefund habe. Zeichen von Verwahrlosung lägen nicht vor.
Das LAG sah in der Anzeige eine unverhältnismäßige Reaktion auf die zuvor ausgesprochene ordentliche Kündigung. Selbst dann, wenn die Vorwürfe als richtig unterstellt würden, habe die Hauswirtschafterin unter Beachtung ihrer Loyalitätspflichten zunächst eine interne Klärung mit dem Ehepaar versuchen müssen. Erst nach Scheitern eines solchen Versuches habe eine Behörde eingeschaltet werden dürfen. Ob die Behauptungen der Hauswirtschafterin zutreffend seien, hat das Landesarbeitsgericht dahinstehen lassen.

Es kann daher nur empfohlen werden, den von mir in der Buchveröffentlichung »100 Fragen zum Umgang mit Mängeln in Pflegeeinrichtungen« (ISBN 978-3-89993-767-1, Kunz Verlag, Buchreihe der Schlüterschen, Hannover) aufgezeigten Handlungsanleitungen Aufmerksamkeit zu schenken und anhand der gemachten Vorschläge zu verfahren.

In diesen Handlungsanleitungen wird ausdrücklich auf die Möglichkeit hingewiesen, seitens der MitarbeiterInnen in geeigneten Situationen mit Überlastungsanzeigen zu reagieren. Obwohl die Abfassung und Präsentation solcher Überlastungsanzeigen keine rechtlich relevanten Einwände entgegen stehen, hat sich aber vielfach eine große Zurückhaltung gegenüber diesbezüglichen Wortmeldungen ergeben. Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk hat gleichwohl immer wieder zu solchen Überlastungsanzeigen ermuntert und der Arbeitgeberseite verdeutlicht, dass solche Mitteilungen ja schließlich auch als kostenlose Verbesserungsvorschläge verstanden werden können. Zu beachten ist aber, dass die Vorlage von Überlastungsanzeigen nicht von den dienstvertraglichen Sorgfaltspflichten (§§ 276, 278 BGB) entbinden.

Die Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach GmbH, größter Anbieter stationärer Altenpflege in Mönchengladbach, hat nun mit dem Betriebsrat des Unternehmens eine Dienstvereinbarung für Überlastungsanzeigen abgeschlossen. Damit soll erreicht werden, dass die immer stärker belasteten Beschäftigten in der Pflege nicht weiter dem Risiko ausgesetzt bleiben, ungeschützt persönlich für Fehler haftbar gemacht zu werden, die sich fast unausweichlich aus den gesetzlichen und personellen Rahmenbedingungen im Gesundheits- und Pflegesystem ergeben.

In einer Erklärung der Sozial-Holding vom 18.03.2013 heißt es dazu u.a.:

„Während beim Gesetzgeber und den Kostenträgern viel über die Wertschätzung von Pflegenden gesprochen wird, aber nach wie vor zum Beispiel einheitliche Tarife oder vergleichbare Personalanhaltszahlen fehlen, können wir die Beschäftigen nicht weiter im Regen stehen lassen. Uns sind die Beschäftigten so wichtig, dass wir nicht länger auf -wie auch immer geartete- Regelungen und Versprechungen warten konnten und wollten“.
In der Mitteilung der Sozial-Holding heißt es weiter: „Ausgangspunkt der in dieser Vereinbarung getroffenen Regelungen ist das persönliche Gespräch der Beschäftigten mit den unmittelbar Vorgesetzten und die Information über die Belastungs- bzw. Überlastungssituation. Lassen sich in diesem Gespräch keine Lösungen finden, um die Situation für den Betroffenen zu verbessern, kann er mit einem Formblatt, das an die Personalabteilung, den Betriebsrat und den Arbeitsschutzbeauftragten geleitet wird, formal seine Überlastung dokumentieren und anzeigen. Dann sind Personalabteilung und Betriebsrat verpflichtet, sich innerhalb von 14 Tagen vor Ort mit den geschilderten Problemen zu befassen und nach Lösungen zu suchen.“

Die Betriebsratsvorsitzende der Sozial-Holding dazu: „Uns ist klar, dass die Sozial-Holding unter den gesetzlichen Rahmenbedingungen arbeiten muss, die es nun einmal zur Zeit leider gibt. Nichts desto trotz dürfen wir nicht nachlassen, eine bessere Personalausstattung für die Altenpflege von der Politik und den Kostenträgern zu fordern. Denn auch bei noch so guten betrieblichen Regelungen sind die Arbeitssituationen für die Kolleginnen und Kollegen bundesweit so nicht mehr akzeptabel.“

Der Geschäftsführer der Sozial-Holding, Helmut Wallrafen-Dreisow, u.a. weiter: „Es ist erschreckend, dass die Überlastungs-Thematik weder im Arbeits- noch im Tarifrecht näher geregelt ist. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Pflegepersonal immer häufiger persönlich von Kassen und Angehörigen persönlich zur Verantwortung gezogen wird. Als Arbeitgeber dürfen wir nicht zulassen, dass die Pflegekräfte vor Ort für die Versäumnisse von Politik und Kostenträgern persönlich zur Verantwortung gezogen werden. Wenn Qualität zu Recht gefordert wird, dann muss auch Tariflohn gezahlt und genügend Personal vorgehalten werden.“

Mit der hier vorgestellten Dienstvereinbarung sind zwar die im Gesundheits- und Pflegesystem maßgeblichen schlechten Rahmenbedingungen nicht etwa korrigiert oder gar verbessert. Aber es ist mit der Vereinbarung den MitarbeiterInnen eine gute Grundlage an die Hand gegeben, sich mit Rücksicht auf die alltägliche Pflegenot gegenüber dem Arbeitgeber zu äußern und damit auch eine haftungsrechtliche Entlastung zu schaffen.

Unabhängig davon bleibt der Gesetzgeber aufgefordert, durch geeignete Reformmaßnahmen für die seit langer Zeit geforderten systemischen Verbesserungen zu sorgen und dabei insbesondere zu gewährleisten, dass auf Grund von bundeseinheitlichen Personalbemessungssystemen ausreichend Personal zur Versorgung der pflegebedürftigen Menschen bzw. Patienten angestellt werden kann. Damit wäre ein entscheidender Schritt getan, die Arbeitsbelastungen im Pflegedienst von Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern aufzulösen. Mit solchen Reformmaßnahmen müssen natürlich Verbesserungen bei der Vergütung der Pflegekräfte einher gehen.

Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk begrüßt unter den gegebenen Umständen die von der Sozial-Holding Mönchengladbach GmbH ermöglichte Betriebsvereinbarung für Überlastungsanzeigen sehr und fordert gleichzeitig alle Arbeitgeber im Gesundheits- und Pflegesystem dazu auf, der vorbildlichen Personalpolitik des Mönchengladbacher Unternehmens zu folgen und ebenfalls ähnliche Vereinbarungen zur haftungsrechtlichen Entlastung der MitarbeiterInnen anzustreben bzw. abzuschließen.

Pro Pflege - Selbsthilfenetzwerk …

führt regelmäßig Pflegetreffs mit bundesweiter Ausrichtung durch.
ist Kooperationspartner der „Aktion Saubere Hände.“
ist Initiator bzw. Mitbegründer des Quartierkonzeptes Neuss-Erfttal.
ist Unterstützer von "Bündnis für GUTE PFLEGE".
ist Unterstützer der "Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen".
tritt für wirksame Patientenrechte und deren Durchsetzung ein.
unterstützt im Rahmen der Selbsthilfe auch Patienten mit Schlaganfall einschließlich deren Angehörige.

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